Kanada 2023 · 119 min. · FSK: ab 16 Regie: Pascal Plante Drehbuch: Pascal Plante Kamera: Vincent Biron Darsteller: Juliette Gariépy, Laurie Babin, Elisabeth Locas, Natalie Tannous, Maxwell McCabe-Lokos u.a. |
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Konstrukteurinnen des Bösen: die Zuschauerinnen | ||
(Foto: 24Bilder) |
Mörder, Verbrechen und Gewalttaten: Kaum ein anderer Themenkomplex ist multimedial derzeit so präsent, seien es True-Crime Podcasts, Bücher oder Fernsehserien wie »Dahmer«. Die Faszination für »das Böse« kennt dabei kaum Grenzen. Wie schnell eine solche Faszination zur Besessenheit werden kann, ist der Leitfaden von Red Rooms. Der Québec-kanadische Regisseur Pascal Plante nimmt sich dabei jene Groupies zum Vorbild, die bereits in den 70er Jahren den amerikanischen Serienmörder Ted Bundy anhimmelten. Bei ihm im Mittelpunkt stehen Kelly-Anne (Juliette Gariépy), ein Model mit einer Affinität für IT-Sicherheit und Online-Glücksspiel, sowie Clementine (Laurie Babin), eine mittellose junge Frau, die sich mit Kelly-Anne anfreundet. Die beiden verfolgen als Zuschauerinnen im Gerichtssaal den Mordprozess gegen Ludovic Chevalier (Maxwell McCabe-Lokos), campieren dafür sogar nachts vor dem Gebäude. Auf unterschiedliche Art und Weise sind sie besessen von Chevalier – dessen Schuld bereits vor dem Prozess bewiesen zu sein scheint.
Plante fokussiert vor allem auf die Persönlichkeiten der beiden jungen Frauen und ihre »Beziehung« zu Chevalier. Clementine ist von seiner Unschuld überzeugt, erklärt die erdrückende Beweislast mit Justizirrtum und Kalkül. Kelly-Anne hält eine rationale Fassade aufrecht, während sie im Darkweb Videos der Taten, die während des Prozesses als Beweismittel gezeigt werden, konsumiert und für eines davon im titelgebenden Red Room mit Bitcoins bei einer Auktion bietet. Obwohl recht schnell klar ist, dass Chevalier schuldig ist und die beiden Frauen in ihrer Besessenheit einen verklärten Blick auf den Prozess haben, schafft Plante das Kunststück, die beiden nie zu Witzfiguren zu machen oder sie zu dämonisieren. Wenn Clementine bei einer Fernsehtalkshow anruft, in welcher Chevalier als Monster betitelt wird, die Gäste beleidigt und anschließend von ihnen verhöhnt und bedauert wird, sollen wir sie als Opfer sehen. Die Ambivalenz in der Darstellung der Figuren lässt jedoch die Frage offen, woher der blinde Fanatismus für einen kaltblütigen Mörder kommt. Ist es der Drang nach menschlicher Nähe? Eine Auseinandersetzung mit den eigenen Dämonen? Eine inhärente psychosomatische Störung? – Eine klare Antwort bleibt Plante dem Zuschauer zumindest in Teilen schuldig, doch gibt er ihm genug an die Hand, um sich selbst ein Bild zu machen.
Diese Außensicht auf seine Figuren behält Plante den gesamten Film über bei und verzichtet gleichzeitig darauf, dem Zuschauer das Denken abzunehmen. Der Prozess wirkt nahezu dokumentarisch. Ohne viele Schnitte tragen die Anwälte jeweils ihre Eröffnungsplädoyers vor. Chevalier indes entzieht sich dem Zuschauer als handelnde Figur. Hinter Glas wortlos im Gerichtssaal sitzend, kann er kein Vehikel für Hass werden, ist mehr ein still verharrendes Objekt. Sein Anwalt hat fast schon gute Argumente pro reo, die zumindest zu Beginn des Films plausibel erscheinen.
Auf die Darstellung visueller Gewalt verzichtet Plante ebenfalls. Während die Figuren den Videos der Gräueltaten ausgesetzt sind, bleibt dem Zuschauer eine Geräuschkulisse außerhalb des Gerichtssaals und per Lautsprecher aus dem Computer, sowie die Reaktionen auf den Gesichter im Gerichtssaal. Beides gibt genügend Aufschluss über den Inhalt. Bilder, die länger und eindringlicher im Kopf bleiben als jeder Splatter-Effekt. Die unterschiedlichen Reaktionen der Betrachter im Film vertieft die ambivalente Figurenzeichnung. Wir sehen Ekel, Bestürzung und Schock, stellvertretend für die gebotene Lesart des Dargestellten. Genauso jedoch gibt es auch die Obsession, für die hier die Grenze der Faszination überschritten wird und eine unaufhaltsame Höllenfahrt entfacht, die Katharsis zu versprechen scheint.
Mit Red Rooms inszeniert Pascal Plante einen intensiven Film, der durch seine Figuren und Handlungsstruktur bis zum Ende komplex bleibt. Anstatt eines simplen whodunits stellt der Regisseur den psychischen Umgang mit Mördern in den Vordergrund und fordert den Zuschauer heraus, dem Bösen genauso viel Aufmerksamkeit zu schenken, wie es seine Figuren tun. Red Rooms sticht aus einem sonst oft überladenen Genre heraus, und gibt ihm überdies ein völlig neues Gesicht.