Reise nach Jerusalem

Deutschland 2018 · 119 min. · FSK: ab 6
Regie: Lucia Chiarla
Drehbuch:
Kamera: Ralf Noack
Darsteller: Eva Löbau, Anna Bardorf, Beniamino Brogi, Veronika Nowag-Jones, Yvonne Ernicke u.a.
Prekäre Posi­tionen

Zerzau­selte Zukunften

»Ungleich­heiten werden keines­wegs beseitigt, sondern nur umde­fi­niert in eine Indi­vi­dua­li­sie­rung sozialer Risiken. In der Konse­quenz schlagen gesell­schaft­liche Probleme unmit­telbar um in psychi­sche Dispo­si­tionen: in persön­li­ches Ungenügen, Schuld­ge­fühle, Ängste, Konflikte und Neurosen. Es entsteht – paradox genug – eine neue Unmit­tel­bar­keit von Indi­vi­duum und Gesell­schaft.«Beck, Ulrich: Jenseits von Stand und Klasse?. In: Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.): Riskante Frei­heiten, Frankfurt, 1994, S. 58

Es ist nicht unbedingt die Regel, dass der gegen­wär­tige junge deutsche Film von den Leiden des Alltags oder einer Gesell­schaft erzählt, ohne dabei mit Humor, magischem Realismus oder anderen Weich­zeich­nern zu sedieren. Umso über­ra­schender ist deshalb das Spielfilm-Debüt der seit einiger Zeit in Berlin lebenden italie­ni­schen Dreh­buch­au­torin, Schau­spie­lerin und Regis­seurin Lucia Chiarla.

Denn in ihrer Reise nach Jerusalem, der Geschichte der 39-jährigen Single­frau und arbeits­losen Online-Redak­teurin Alice (Eva Löbau), die ruhelos zwischen Hoffnung und Verzweif­lung pendelt und nach unzäh­ligen Bewer­bungs­kämpfen, Vor- und Verstel­lungen und immer neuen Nieder­lagen irgend­wann vor dem persön­li­chen Ruin steht, verwei­gert sich Chiarla jeglichen Stereo­typen, Weich­zeich­nern, und so gut wie jedem Humor, ausge­nommen, den kleinen, selbst­iro­ni­schen Galgen­hu­mo­resken, die einem noch übrig bleiben, wenn man auf dem Weg nach unten ist.

Statt­dessen schaut Chiarla dem Leben des im weit gesteckten, frei­be­ruf­li­chen Krea­tiv­be­reich arbei­tenden Groß­stadt­p­re­ka­riats gnadenlos zu. Mitleid wird hier zwar in der üblichen Bussi-Menta­lität leicht formu­liert, Mitleiden aber als schwere Last empfunden und deshalb, so gut es geht, verdrängt, so dass am Ende jeder für sich und dann auch irgend­wann jeder gegen jeden steht.

Chiarla lässt sich dabei genügend Zeit, um das Umfeld von Alice zu skiz­zieren und ihrer zuneh­menden Isolation und Hoff­nungs­lo­sig­keit eine Wirk­lich­keit abzu­ringen, die so dicht gezeichnet ist, dass sie fast schon thera­peu­ti­sche Qualität hat. Denn ohne es wirklich zu wollen, beginnt man sich selbst und das eigene prekäre Umfeld zu hinter­fragen und die nächste Begegnung mit einem Bekannten offener zu gestalten, um Notlügen und dem allseits bekannten Zweck­op­ti­mismus schon im Vorfeld keinen Raum zu geben und – auf so etwas wie Wahrheit zu hoffen.

Denn auch das macht Chiarla deutlich – jeder kann in diesem Ego-Shooter-Szenario der Nächste sein, und sieht man sich nur einmal die Honorare für Online-Jour­na­listen an – um das Nahe­lie­gendste heraus­zu­greifen –, über­rascht es kaum, zu welch abstrus-kreativen Ideen Chiarlas Alice greifen muss, um ihre riskanten Frei­heiten, die sich inzwi­schen in ein höchst riskantes Leben verwan­delt haben, zu finan­zieren.

Eva Löbau, die bereits in Maren Ades Der Wald vor lauter Bäumen einen auch thema­tisch ähnlichen Parforce­ritt hinlegte, ist als Alice schlichtweg großartig. So großartig, dass man immer wieder den Kopf zu Seite wenden muss, weil die Inten­sität ihres Spiels kaum mehr zu ertragen ist. Denn Löbau spielt diese Zerset­zung einer Persön­lich­keit beinahe wie einen Exor­zismus. Doch der Teufel, den sie hier austreibt, ist im Grunde mehr als nur die eigene Verun­si­che­rung, ist vielmehr unsere moderne Gesell­schaft, deren hohle Frei­heits­ver­spre­chen in diesem gnadenlos luziden Zerr­spiegel nicht nur vorge­führt, sondern vor allem – und das ist sehr wichtig – spürbar gemacht werden.