Schweiz/E/Peru 2024 · 104 min. Regie: Klaudia Reynicke Drehbuch: Klaudia Reynicke, Diego Vega Vidal Kamera: Diego Romero Darsteller: Abril Gjurinovic, Luana Vega, Gonzalo Molina, Jimena Lindo, Susi Sánchez u.a. |
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Anschauliche kindliche Sicht auf das Zerbrechen einer Familie... | ||
(Foto: Arsenal) |
Im Sommer 1992 bereitet sich Elena (Jimena Lindo) in Lima darauf vor, mit ihren Töchtern Aurora (Luana Vega) und Lucia (Abril Gjurinovic) in die USA auszuwandern. Im Bundesstaat Minnesota wartet auf die alleinerziehende Mutter eine Arbeitsstelle. Die Familie sucht Sicherheit anstatt von Unruhen, Gewaltakten, Ausgangssperren, Stromausfällen und permanenter Inflation. Doch der Abschied fällt schwer: Die drei müssen ihre Angehörigen und Freunde zurücklassen. Und Carlos (Gonzalo Molina), den Vater der Mädchen und Ex-Ehemann von Elena. Carlos ist ein unzuverlässiger Luftikus, der gerne schwadroniert, aber wenig auf die Kette bekommt. Er schlägt sich als Taxifahrer mit einem klapprigen Lada durch und arbeitet nachts als Wächter in der Firma seines Onkels.
Bis zur geplanten Abreise quartiert sich das Trio bei Elenas wohlhabender Mutter Abuela, dargestellt von der Pedro Almodóvar-Stammschauspielerin Susi Sánchez, ein. Auch wenn Elena stets genervt ist, wenn sie Carlos sieht, so ist sie doch auf ihn angewiesen – zumindest noch ein einziges Mal. Denn er muss vor einem Notar die erforderliche Einverständniserklärung unterschreiben, damit die Kinder das Land verlassen dürfen. Doch Carlos zögert den Schritt immer wieder hinaus und erfindet Ausreden. Stattdessen fährt er mit den Mädchen, die er in den letzten Jahren selten gesehen hat, zum Baden an den Strand und donnert mit ihnen in einem geliehenen Jeep über riesige Dünen, wirbt mit Zähigkeit und wachsendem Erfolg um ihre Zuneigung. Doch der Tag der geplanten Abreise rückt unerbittlich näher.
In ihrem dritten langen Spielfilm nach Il Nido (2016) und Love Me Tender (2019) greift die schweizerisch-peruanische Regisseurin Klaudia Reynicke unübersehbar auf persönliche Erfahrungen zurück, auch wenn es sich nicht um eine autobiographische Erzählung handelt. Reynicke verließ mit ihren Eltern Peru im Alter von zehn Jahren und wuchs in der Schweiz und den USA auf. Sie studierte Film in New York, Lausanne und Genf. In ihrer gemächlichen Inszenierung verknüpft die Filmemacherin eigene Migrationserlebnisse mit fiktiven Elementen.
Das Familiendrama ist immer dann am stärksten, wenn Reynicke mit liebevoller Hand die innerfamiliären Spannungen im Vorfeld der geplanten Emigration schildert, insbesondere das enge, aber komplexe Verhältnis zwischen den beiden Schwestern, die Carlos immer wieder Reinas (Königinnen) nennt. Während die junge Lucia sich nach familiärer Geborgenheit und Sicherheit sehnt, will die jugendliche Aurora mehr Freiheit und Selbstbestimmung und streckt schon die Fühler nach außen aus.
In ihrer schönsten gemeinsamen Szene offenbart die verunsicherte Teenagerin ihrer jüngeren Schwester, dass ihre Monatsblutung überfällig ist und sie vermutlich von ihrem gleichaltrigen Freund Rony schwanger ist. Aurora verpflichtet die gebannt zuhörende Lucia, das »Geheimnis« für sich zu behalten. Gemeinsam bekräftigen sie das Bündnis mit einem »Schwesternschwur«. Luana Vega, die hier ihre erste Hauptrolle spielt, und Abril Gjurinovic vermitteln die kindliche Sicht auf das Zerbrechen der Familie sehr anschaulich.
Viel Leinwandzeit verwendet Reynicke auch auf die Schilderung des holprigen Wiederannäherungsprozesses zwischen Vater und Töchtern, den Elena kurz vor der Abreise gestattet. Ist das Verhältnis anfänglich von Entfremdung und Vorsicht geprägt, so kommen sich die Mädchen und der sichtlich bemühte Carlos allmählich näher, je mehr Zeit sie miteinander verbringen, und entdecken nach und nach Gefühle der Vertrautheit. Dabei hilft nicht zuletzt die Fantasie des Vaters, der mal eben einen Ersatzreifen gegen neue Badeanzüge für die Töchter eintauscht oder sich gegenüber Lucia als Geheimagent ausgibt, ansonsten aber versucht, sein verkorkstes Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Am schwächsten ist Reinas, wenn es darum geht, aufzuzeigen, warum Elena mit ihren Töchtern auswandern will. Zwar zeigt das Fernsehen einmal die Folgen eines Bombenanschlags, der dem »Leuchtenden Pfad« zugeschrieben wird. Elena fährt ein anderes Mal mit dem Auto in einen Demonstrationszug, dessen Teilnehmer Gerechtigkeit fordern. Und als die Kinder nachts ausbüxen, geraten sie und später Elena und zwei erwachsene Familienangehörigen in einen Kontrollposten der Sicherheitskräfte, die nach der Sperrstunde alle festnehmen und auf ein Polizeirevier bringen.
Doch reichen diese Hinweise und Andeutungen nicht aus, um den politischen Hintergrund für Nicht-Peruaner verständlich oder gar die Dringlichkeit der Emigration plausibel zu machen. So wird nicht einmal erklärt, dass der »Leuchtende Pfad« (Sendero Luminoso) eine linksextremistische Untergrundorganisation war, die in den 1980er- und 1990er-Jahren einen blutigen Bürgerkrieg gegen die Regierung führte, in dem beide Seiten Massaker an der Zivilbevölkerung verübten. Schätzungsweise 70.000 »verschwanden« und mehr als 500.000 Menschen wurden vertrieben.
Das filmische Familienporträt gewann in der Sektion Generation der Berlinale 2024 den Preis für den besten abendfüllenden Film. Auf dem 77. Locarno Film Festival erhielt der Film den Publikumspreis und vertritt die Schweiz im Wettbewerb um den Oscar als bester internationaler Film.