Proxima – Die Astronautin

Proxima

Frankreich/Deutschland 2019 · 107 min. · FSK: ab 6
Regie: Alice Winocour
Drehbuch: ,
Kamera: Georges Lechaptois
Darsteller: Eva Green, Zélie Boulant, Matt Dillon, Lars Eidinger, Sandra Hüller u.a.
Quarantäne vor dem Flug zum Mars: Mutter und Tochter
(Foto: Koch Films)

Ein Marsflug ist mehr als eine Geschäftsreise

Eine Heldin im ganz klassischen Sinn: Proxima von Alice Winocour

Die Französin Alice Winocour hat noch gar nicht so viele Filme gemacht, dafür aber schon relativ viele Auszeich­nungen bekommen. Ihr großes Thema sind die Weib­lich­keit und die Situation junger Mädchen.
Winocour hat aber mit Dreh­büchern für andere Regis­seu­rinnen auch schon große Erfolge gehabt. Einen Film muss man dabei hervor­heben: Den türki­schen Film Mustang, der vor einigen Jahren den Euro­päi­schen Filmpreis und den Oscar gewonnen hat. Da finden wir eine ganz klare Verwandt­schaft zu ihrer neuen, dritten und bisher bedeu­tendsten Regie­ar­beit Proxima. In Mustang geht es um Schwes­tern, junge Mädchen, im Alter zwischen, grob gesagt, acht und sechzehn. Sie werden unter­drückt und quasi gefangen gehalten von älteren Frauen in der repres­siven agra­ri­schen Gesell­schaft der türki­schen Gegenwart. Das Ganze zeigt einen sehr beson­deren Sinn für Kinder und für Heran­wach­sende. Dies ist die Gemein­sam­keit mit Proxima, wo wir als zweiter Haupt­figur der acht­jäh­rigen Tochter einer Raum­fah­rerin begegnen.

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Obwohl das Welt­raum­film-Genre eher den männ­li­chen Helden kennt, gibt es doch einige Klassiker im All mit ziemlich uner­schro­ckenen Frauen: Sigourney Weaver zum Beispiel, die es als einsame Kämpferin mit einem mons­trösen Alien zu tun hat. Nun kommt mit Proxima ein weiterer Film über Frauen im All ins Kino. Wobei es Regis­seurin Alice Winocour mehr um die Zeit davor geht: Nicht nur um physische und orga­ni­sa­to­ri­sche, sondern auch um die fami­liären Fragen. Denn Astro­nautin Sarah hat eine kleine Tochter, von der sie ein Jahr lang getrennt sein wird, wenn sie zum Mars fliegt. Und von der sie auch in der Vorbe­rei­tungs­phase stel­len­weise wegen Quaran­täne-Vorschriften schon getrennt ist und dann mit ihr nur durch eine Glaswand kommu­ni­zieren darf.

Das Thema des Films ist im Zentrum erstmals diese Mutter-Tochter-Beziehung und mehrere Varianten des Frauseins. Denn es geht auch darum: Was heißt Weib­lich­keit? Das junge Mädchen, die Tochter hat eine sehr enge Beziehung zu ihrer Mutter, denn die Eltern sind getrennt. Das heißt: Die Mutter ist die Haupt­be­zugs­person, und es geht im Film auch darum, wie sich das kleine Mädchen in die Mutter hinein­pro­ji­ziert; auch noch in deren Träume.
Denn diese Mutter hat einen großen Traum. Sie träumt davon, die erste Astro­nautin zu sein, die zum Mars fliegt. Es geht also genauso wie um Familie auch um Karriere, um das Gute, das Richtige an einer Karriere einer Frau. Es geht um eine Frau in einer Männer­welt und um das schlechte Gewissen, das man ablegen muss. Um das Problem: Wie vereinigt man Beruf und Familie?
Es geht um das Span­nungs­ver­hältnis zwischen sehr irdischen Fragen einer­seits und dem Weltraum als Projek­ti­ons­raum für Träume und Phan­tasmen.

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Es ist immer schön, wenn man in Filmen Dinge sieht und lernt, die man noch nicht kennt. Hier bekommt man tatsäch­lich die Anstren­gungen und die sehr prag­ma­ti­schen, sehr alltä­g­li­chen Seiten des Raum­fahrt­be­triebs vorge­führt und näher gebracht. Dazu gehört nämlich einfach viel Büro­kratie, dazu gehört das wochen- und mona­te­lange Training, das auch ziemlich öde Seiten hat. Es gehören Pres­se­kon­fe­renzen dazu. Und es gehört dazu, was das alles für die Familie bedeutet, die viele Opfer bringen muss. Erst recht natürlich, wenn die Mutter allein­er­zie­hend ist und dann gleich für ein ganzes Jahr Richtung Mars fliegt. Das ist mehr als eine normale Geschäfts­reise.
Man könnte sagen: Raumfahrt wird ein bisschen demy­thi­siert, und verall­tä­g­licht. Auch Raumfahrt ist heute in gewissem Sinn ein ganz normaler Beruf. Aber gleich­zeitig es ist eben schon so, dass die Raumfahrt etwas Beson­deres ist. Und die Aura, das Mythische, was die Raumfahrt berührt, was das Verlassen der Erde berührt, das verliert dieser Film nicht aus den Augen. Dafür schärft er immer wieder unseren Sinn.

Dieser Film hat ganz eindeutig ein Empfinden dafür, dass Raumfahrt etwas ganz Tolles ist, etwas Schönes und etwas nach wie vor sehr Beson­deres und Außer­ge­wöhn­li­ches. Wer hätte schon das noch vor sechzig, siebzig Jahren gedacht, dass dies möglich wäre. Und diesen »Möglich­keits­sinn« (Robert Musil) und dieses Gefühl für das Über­schreiten einer exis­ten­ti­ellen Schwelle, das weckt dieser Film in jedem Fall. Dazu gehört auch die Filmmusik des sehr berühmten japa­ni­schen Kompo­nisten Ryuji Sakamoto, die auch dieses aura­ti­sche und pathe­ti­sche Element noch verstärkt.

Die von Eva Green gespielte Raum­fah­rerin, die zum Mars aufbricht, ist auch eine Heldin. Und zwar eine Heldin in einem ganz klas­si­schen Sinn. Sie riskiert ihr Leben, sie setzt es aufs Spiel für eine Idee. Man kann da sogar an Figuren der grie­chi­schen Mytho­logie und an die klas­si­sche »Helden­reise« denken. Aber Sarah ist gleich­zeitig eine moderne Frau – und dass das zusam­men­geht, dass man nicht behauptet, dass wenn eine Frau eine Heldin ist, sie dann auch ganz, ganz anders sein muss als die männ­li­chen Helden. Nein! Sie darf genauso sein, wie die männ­li­chen Helden, sie darf auch ähnliche Träume haben, darf Ruhm suchen und Narzissmus befrie­digen. Dass das gelingt und nicht moralisch proble­ma­ti­siert wird, ist etwas sehr Beson­deres.