Oslo Stories: Träume

Drømmer

Norwegen 2024 · 111 min. · FSK: ab 6
Regie: Dag Johan Haugerud
Drehbuch:
Kamera: Cecilie Semec
Darsteller: Ella Øverbye, Selome Emnetu, Ane Dahl Torp, Anne Marit Jacobsen, Ingrid Giæver u.a.
Oslo Stories: Träume
Drei Generationen, drei Wahrheiten
(Foto: Alamode / Die FilmAgentinnen)

„Wenn einen niemand will, ist man niemand“

Dag Johan Haugerud vertieft in seinem preisgekrönten Drama seinen Blick auf die menschlichen Untiefen in unserer Gegenwart. Das ist so erhellend wie befreiend und auch komisch und vor allem: großes Kino

Immerhin stimmt bei Oslo Stories: Träume alles mit der Chro­no­logie. Träume ist tatsäch­lich der von Dag Johan Haugerud vorge­se­hene zweite Teil seiner Oslo-Trilogie. Ob davor und danach nun Oslo Stories: Liebe, der in Deutsch­land zwei Wochen vor Oslo Stories: Träume ange­laufen ist, platziert sein sollte oder halt Oslo Stories: Sehnsucht, scheint die Verleiher außerhalb Norwegens nicht zu kümmern, auch wenn Haugerud noch so sehr betont hat, dass Oslo Stories: Liebe als Abschluss und Fazit seiner Trilogie gedacht war. Für mich funk­tio­niert die Trilogie aller­dings auch als gleich­be­rech­tigtes Tripty­chon, so wie bei Max Beckmann die Einzel­teile seiner Tripty­chen auch ausge­tauscht denkbar sind und neue gedank­liche Schnitt­mengen möglich scheinen.

Gleich­zeitig passt das inter­na­tio­nale Durch­ein­ander gut zu Haugeruds Ansatz, in seinen drei Filmen die kaum entwirr­bare Komple­xität mensch­li­cher Bezie­hungen, die Untiefen der Sexua­lität und die Verhan­del­bar­keit von gesell­schaft­li­chen Normen in das Zentrum seiner „ausge­spro­chen“ dialog­freu­digen Filme zu stellen. Waren es in Oslo Stories: Liebe erwach­sene Menschen der mehr oder weniger gleichen Alters­gruppe, sind es nun in Träume, der auf der dies­jäh­rigen Berlinale nicht nur den Haupt­preis, sondern auch den FIPRESCI- und Gilde-Preis erhalten hat, gleich drei Gene­ra­tionen, deren Denken, Fühlen und Sprechen er ergründet.

Das mag sich ein wenig theo­re­tisch anhören, doch ist es das gerade nicht. Denn Haugeruds Dialoge sind derartig alltags­im­ma­nent und gleich­zeitig kathar­tisch, dass einem beim Hinsehen und Hinhören einfach nur die pure Freude überkommt. Dabei ist Oslo Stories: Träume der viel­leicht schwie­rigste, sper­rigste Film der Trilogie. Denn die hier erzählte Geschichte entspinnt sich unmerk­lich und langsam. Die 16-jährige Schülerin Johanne (Ella Øverbye) verliebt sich in ihre neue Fran­zö­sisch­leh­rerin Johanna (Selome Emnetu) und schreibt, um, sich ihrer Gefühle zu versi­chern, ja sie überhaupt zu verstehen, einen Text, den sie ihrer Groß­mutter Karin (Anne Marit Jacobsen) zeigt, die ihn wiederum ihrer Tochter Kristin (Ane Dahl Torp), also Johannes Mutter vorlegt.

So mono­the­ma­tisch der Film beginnt – die Schwär­merei oder Verliebt­heit einer Schülerin für ihre Lehrerin – so völlig unver­hofft entfaltet er sich dann. Am besten vergleichbar ist diese Entfal­tung mit lose in eine Teekanne gewor­fenen Teeblät­tern und dem Über­gießen mit heißem Wasser, einem Moment, dem wir auch in Haugeruds Film beiwohnen und während­dessen sich eines der vielen Gespräche in diesem Film ereignet und mit den dann gespro­chenen Worten sich nicht nur die Situation, sondern auch die Erkennt­nisse, was diese Situation war und nun ist, verändert. Diese durch Sprache getrig­gerten Verän­de­rungen der Bilder werden noch einmal durch den aus dem Off gelesenen Text von Johanne verstärkt, der die Vergan­gen­heit ergründet und die filmische Gegenwart, die Rück­blende und absolute Gegenwart umfasst, zu einem Ganzen verbindet und in eine noch unbe­stimmte Zukunft kata­pul­tiert.

Von dieser Zukunft sehen wir nur Fragmente, eine groß­ar­tige Szene bei Johannes Thera­peuten, in dem nicht nur die Notwen­dig­keit moderner Therapie und frag­wür­diger Leidens­druck erörtert werden, sondern sich auch die Gegenwart mit der Vergan­gen­heit anfreundet und dann auch noch das Rathaus von Oslo auftaucht, das in allen drei Filmen eine Art von Anker­rolle spielt. Jedes hier gespro­chen Wort ist fein tariert. Wenn Johannes Therapeut etwa die Banalität des Leides seiner Klientin andeutet, gelingt es Johanne seine plausible Sicht­weise genauso plausibel zu kontern, denn sie hat ja Recht, wenn sie sagt: „Wenn einen niemand will, ist man niemand.“

Doch Haugerud erzählt noch viel mehr, erzählt von der Gefahr, Träume und Geschichten weiter­zu­geben und damit die Kontrolle darüber zu verlieren, erzählt vom Wandel der Liebe in einer sich wandelnden Stadt und in einem völlig umwer­fenden Gespräch zwischen Johannes Mutter und Groß­mutter wird nicht nur über Adrian Lynes Flash­dance gespro­chen, sondern auch über drei Gene­ra­tionen von Femi­nismus und Frausein. Auch hier ist der Wandel eine Kernes­senz, gleich­zeitig ist aller Wandel auch ein Wunder, weil er auch das inkor­po­riert, was war und was sein wird. Diese Einheit von dem, was war, was ist und sein wird und die glei­cher­maßen vorhan­dene Uneinheit von Sprechen, Handeln und Fühlen sind die Essenz, die sich am Ende entfal­teten Teeblätter, die dem Wasser bzw. dem Leben Farbe und Geschmack geben.

Bei all dem Ernst gelingt es Haugerud jedoch, das Spie­le­ri­sche und den Witz nicht zu vergessen. Die manchmal uner­träg­liche Leich­tig­keit des Lebens wird erträg­lich, nicht nur durch groteske Bonmots wie jene, das Gott ein nackter Schwede sei, sondern vor allem durch die Leich­tig­keit und das Bedürfnis aller Betei­ligten, sich der Schwere des Lebens mit Sprech­akten zu entle­digen und dadurch ein neuer Mensch zu werden. Denn das ist ja viel­leicht auch das größte Verspre­chen unserer Moderne, das letzt­end­lich alles möglich ist, eine für Jahr­tau­sende unbe­kannte Freiheit, die endlich eingelöst werden kann. In Oslo Stories: Träume, Oslo Stories: Liebe und Oslo Stories: Sehnsucht (der in zwei Wochen anläuft) zeigt Dag Johan Haugerud, wie das geht. Berührend, erhellend, faszi­nie­rend und stets über­ra­schend. Großes Kino.