Oslo Stories: Sehnsucht

Sex

Norwegen 2024 · 118 min. · FSK: ab 12
Regie: Dag Johan Haugerud
Drehbuch:
Kamera: Cecilie Semec
Darsteller: Jan Gunnar Røise, Thorbjørn Harr, Birgitte Larsen, Siri Forberg, Theo Dahl u.a.
Oslo Stories: Sehnsucht
Ein Gespräch, das alles verändert...
(Foto: Alamode / Die FilmAgentinnen)

Wenn die Freiheit schmerzt

Auch Dag Johan Haugeruds dritter Oslo-Film ist eine großartige, hyperreale Suche nach der Wahrheit unserer zwischenmenschlichen Beziehungen – in diesem Fall die zweier schöner Schornsteinfeger, die dazu noch klug und weltoffen sind

Würde ich selbst Filme machen und nicht nur darüber schreiben, wären es Filme wie die drei Oslo-Filme von Dag Johan Haugerud. Es sind nicht nur »lite­ra­ri­sche« Filme, weil sie mit langen Dialog­se­quenzen durch­zogen sind, die auch ohne die Kamera und ihre Bilder soghafte, spannende und berüh­rende Geschichten über unsere Gegenwart und unsere alltäg­lichsten Gefühle erzählen: Die Möglich­keiten neuer Bezie­hungs­mo­delle in Oslo Stories: Liebe, die Varianz von Bezie­hungen innerhalb dreier Gene­ra­tionen in Oslo Stories: Träume und die fluide Bedeutung von Sexua­lität in Oslo Stories: Sehnsucht, der im norwe­gi­schen Original aller­dings simpel Sex heißt, was der subku­tanen Bedeutung dieses jetzt in die deutschen Kinos kommenden Filmes auch am besten entspricht. In Oslo Stories: Sehnsucht zeigt sich dann auch einmal mehr, dass Haugeruds Filme zwar Filme des Wortes, der Sprache sind, die immer wieder Oberhand gegenüber filmi­scher Ästhetik und ihrer bild­haften Sprache gewinnt. Aber halt dann doch nicht immer.

Das zeigt sich vor allem in der ganz und gar umwer­fenden ersten Szene von Oslo Stories: Sehnsucht, in der zwei Schorn­stein­feger nach getaner Arbeit in ihrem Büro mit Blick über Oslos Dächer zusam­men­sitzen. Der eine ist der Geschäfts­führer (Thorbjørn Harr) und erzählt von einem immer wieder­keh­renden Traum, in dem er David Bowie gegen­ü­ber­steht, der ihn so ansieht, wie ihn noch nie ein Mann angesehen hat: ohne jegliche Erwar­tungs­hal­tung bzw. mit einer erwei­terten Erwar­tungs­hal­tung, in der er, der verhei­ra­tete Mann mit Kind, auch eine Frau sein könnte. Sein befreun­deter, von Jan Gunnar Røise verkör­perter Mitar­beiter und ebenfalls hetero-normativ lebend, erzählt ihm daraufhin von einem ähnlichen Erlebnis. Nicht im Traum, sondern ganz real bei seinem letzten Kunden sei er zum ersten Mal im Leben von einem Mann so angesehen worden, wie ihn sonst nur Frauen ansehen, und dazu gleich auch noch zum Sex einge­laden worden.

Dieses Gespräch verändert alles. Es vertieft nicht nur die Beziehung der beiden Freunde und Kollegen, es hat auch nach­hal­tige Auswir­kungen auf die Part­ne­rinnen der beiden, auf die von Siri Forberg gespielte Frau des Schorn­stein­fe­gers und die von Brigitte Larsen darge­stellte Frau des Geschäfts­füh­rers. Dieses Kern­en­semble samt den jugend­li­chen Kindern und Freunden der Paare wird immer mehr in den Strudel der eingangs erzählten Träume und Reali­täten gezogen. Das mag in Ansätzen an Arthur Schnitzler und seine Traum­no­velle und die Kubrick-Verfil­mung Eyes Wide Shut oder die deutsche Traum­no­velle-Umsetzung aus dem letzten Jahr von Florian Frerichs erinnern, doch lässt sich gerade an der Verfil­mung von Frerichs besonders gut sehen, dass Schnitzler kaum mehr für eine wirklich gegen­warts­be­zo­gene Adaption taugt. Wer anderer Meinung ist, sollte sich deshalb Oslo Stories: Sehnsucht ansehen, zeigt Haugerud doch hier so atem­be­rau­bend wie zärtlich, was in unserer (west­li­chen) Gegenwart alles möglich ist, wie sehr der Sprechakt inzwi­schen für beide Geschlechter eine fast schon auto­the­ra­peu­ti­sche Funktion erreicht hat.

Dazu gehören nicht nur die sexuellen Bezie­hungen, die hier erörtert werden, sondern auch die Bezie­hungen zwischen Freunden und die zwischen Eltern und ihren Kindern. Zwar ist auch hier die Sprache das Ding aller Dinge, könnte man diesem Film auch ohne seine Bilder gebannt lauschen.

Doch sieht man die Bilder und die groß­ar­tigen Darsteller dieser fein zise­lierten, bis ins letzte Detail ausge­ar­bei­teten Charak­tere, möchte man den Blick nicht mehr von der Leinwand wenden, sondern im besten Fall in die Leinwand treten, so wie einst Tom Baxter in Woody Allens The Purple Rose of Cairo aus der Leinwand heraus­ge­treten ist. Denn Haugeruds Realität fühlt sich nicht nur realer als jede Realität an, sondern auch so viel klüger, schöner und besser. Sei es die Szene, in der einer der beiden Schorn­stein­feger wegen einer durch den Bowie-Traum ausgelösten Zungen­blo­ckade mit seinem Sohn eine Logopädin aufsucht oder die langen Gespräche zwischen den Paaren oder der Besuch eines Chor-Balletts. So wie in Sarah Polleys doku­men­ta­ri­scher Suche nach ihrem leib­li­chen Vater in Stories We Tell, möchte man auch in Haugeruds Spielfilm die Menschen treffen, die hier auftau­chen, mit ihnen reden oder am besten gleich einen ganzen Abend oder ein ganzes Leben mit ihnen verbringen.

Haugerud zeigt, dass die Welt so ist, wie man mit ihr redet, wie man mit seinem Nächsten redet. Der Preis dafür ist aller­dings hoch, ist es doch eine Freiheit, die auch schmerzt, weil diese Gespräche, dieses Ringen mit der Sprache und unseren Bezie­hungen immer auch ein Ringen mit der Wahrheit ist. Mit der äußeren Wahrheit und mit unseren ganz persön­li­chen inneren Wahr­heiten, die es stets abzu­glei­chen gilt. Auch, um viel­leicht das Schönste überhaupt zu erfahren, nämlich von den Anderen um uns herum ohne Erwar­tungs­hal­tung gesehen zu werden und das sein zu können, was man sein will. Auch mal wer ganz anders, und wenn auch nur für einen Nach­mittag mit einem Kunden in dessen Wohnung und im Angesicht eines gerei­nigten Schorn­steins. Eben so wie Haugerud in seinen Filmen auf subtile Weise mit Erwar­tungs­hal­tungen bricht. Denn wer erwartet schon von Schorn­stein­fe­gern derartig reflek­tierte Gespräche, wer von einer Schülerin in Oslo Stories: Träume solchen Tiefsinn und wer von einer Ärztin wie in Oslo Stories: Liebe eine solcher­maßen unkon­ven­tio­nelle Suche nach Liebe?

Am Ende und mitten­drin befinden wir uns auch in Oslo Stories: Sehnsucht wieder am Rathaus in Oslo und glauben viel­leicht, die anderen wunder­baren Menschen aus Oslo Stories: Liebe und Oslo Stories: Träume in der vorbei­de­fi­lie­renden Menge zu sehen. Und auch wenn sie da nicht sind, so reicht doch schon die Möglich­keit. Ganz so, wie Haugeruds Filme auch die Möglich­keit film­ge­wor­dener Literatur sind.