Only the River Flows

He bian de cuo wu

China 2023 · 101 min. · FSK: ab 12
Regie: Wei Shujun
Drehbuch: ,
Kamera: Zhiyuan Chengman
Darsteller: Zhu Yilong, Chloe Maayan, Hou Tianlai, Kai Tong Lin u.a.
Filmszene »Only the River Flows«
Film noir als perfekte Verpackung für verbotene Inhalte
(Foto: Rapid Eye Movies)

Am Tag, als der Regen kam

Doppelbödiger Thriller: In Only the River Flows schmuggelt Regisseur Wei Shujun verbotene Wahrheiten aus dem China von heute auf die Leinwand und zeigt das Kino als Ort von Aufklärung und Erkennungsdienst

Der Regen. Gleich­mäßig und andauernd prasselt er in diesem Film vom grauen Himmel. Er verwan­delt den Boden in Matsch, und die Kleidung in feuchtes, übel­rie­chendes Tuch, er setzt nasse Schlieren in die Gesichter der Menschen und verwischt wichtige Spuren. Er wird langsam uner­träg­lich – und weil der Film auch am Ufer eines Flusses spielt, der oft genug in Nebel­schwaden getaucht ist, meint man die perma­nente Feuchte in der Luft und auf Menschen wie Dingen regel­recht körper­lich zu spüren.

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Gerade in autoritär regierten Ländern wie China ist das Genrekino oft die perfekte Verpa­ckung, um unter der Maske unschul­diger Unter­hal­tung verbotene Waren und Botschaften aus dem Land zu schmug­geln; Verbo­tenes und Ausge­grenztes vor die Augen des Publikums zu bringen.

Überdies sind Genre-Geschichten aus China noch zeit­ver­setzt: Gerade die 90er Jahre, für China eine Ära des extremen Wandels aus Wirt­schafts­boom, poli­ti­scher Befreiung und kultu­reller Öffnung, sind Folie und Tarnkappe zugleich, um von den Verwer­fungen der Gegenwart zu erzählen.

So auch in diesem Fall.

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Ange­sie­delt in einer kleineren Stadt an einem Fluss in Süd-China im Jahr 1995 dreht sich die Handlung um eine Serie myste­riöser Morde, die mit dem Fund der Leiche einer alten Frau beginnt. Die eigent­liche Figur im Zentrum ist der ermit­telnde Polizist. Detective Ma Zhe (ein exzel­lenter Zhu Yilong) soll den Killer jagen.

Anfangs hat Ma kaum Hinweise. Der Haupt­ver­däch­tige ist zunächst ein geistig behin­derter junger Mann, den das Opfer adoptiert hatte, als es zur Witwe wurde, und den alle Nachbarn als eine Art harmlosen »Dorf­trottel« ansahen. Ein leichtes Opfer von Grup­pen­hass. Es scheint ein einfacher Fall zu werden.

Doch dann geschehen weitere Morde, und Ma Zhe’s Fokus muss sich nicht nur einmal verlagern.

Bei den Ermitt­lungen tauchen mit der Zeit immer neue Zeugen auf, die am ersten Tatort, nahe des Fluss­ufers gewesen waren, aber die Behörden nicht infor­miert hatten. Die meisten von ihnen haben ihre guten Gründe, sich von den Vertre­tern des Gesetzes fern­zu­halten: ein Paar, das eine geheime Beziehung führt, der Friseur, der bereits früher wegen »unan­stän­digen Verhal­tens« verhaftet wurde...

Die Unter­su­chungen enthüllen eine unter­drückte Gesell­schaft, die sich durch das poli­zei­liche Eing­reifen nicht befreit, sondern im Gegenteil eingeengt fühlt.

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Regisseur Wei Shujun ist Teil einer regel­rechten neuen Welle des Autoren-Thrillers, die in den letzten Jahren aus China zu uns nach Europa kommt, wo die Filme zur Zeit meistens beim Festival von Cannes laufen – Spiel­filme, die stark beein­flusst sind vom doku­men­ta­ri­schen Realismus der »Sechsten Gene­ra­tion«, von Regis­seuren wie Jia Zhang-ke.

Wei und der Co-Autor Chunlei Kang adap­tierten ihr Drehbuch aus einem Roman von Yu Hua. Der anfäng­liche Tonfall ist trotz der gruse­ligen Morde eher leicht, im Einklang mit der Vorlage. Ma Zhes Poli­zei­kol­legen bevor­zugen es zu flirten oder Tisch­tennis zu spielen, anstatt wie echte Profis zu arbeiten, obwohl bereits die frühen Szenen voller sozialer Dramen sind.
Wei inter­es­siert sich für beides: Alltag und Über­höhung, Komik und Schwere.

Mit fort­schrei­tenden Ermitt­lungen inten­si­viert sich aber die Beses­sen­heit Ma Zhes mit dem Fall. Parallel dazu tritt sein Privat­leben in den Fokus. Als sich heraus­stellt, dass sein unge­bo­renes Kind vermut­lich geistig behindert sein wird, erwägen die Eltern die Möglich­keit einer Abtrei­bung – vor dem Hinter­grund des behin­derten Verdäch­tigen und möglichen Mörders verwan­delt sich dies in eine Debatte über den Wert des Lebens.

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Wei Shujun setzt vor allem auf präzis gewählte Schau­plätze: So beschließt die Polizei, deren Räume gerade umgebaut werden, zu Beginn des Films, ihre Büros in ein altes Kino zu verlegen, das gerade geschlossen wurde, weil »die Leute keine Filme mehr sehen wollen«.

Diese Kulisse ermög­licht eine doppelte Metapher: Das Kino als Ort von Aufklärung und Erken­nungs­dienst, sowie als Beispiel für den Ausdeh­nungs­drang der Sicher­heits- und Poli­zei­kräfte. Vor allem aber bietet sie Möglich­keiten für unge­wöhn­liche Bilder. Bei den Ermitt­lungen disku­tieren die Beamten den Fall mehrmals vor einer alten Leinwand; ein andermal sucht die Haupt­figur Hinweise zwischen alten 35mm-Projek­toren. Der Regisseur bemüht sich, einen atmo­sphäri­schen Film mit einer sorg­fäl­tigen Darstel­lung Chinas zu verbinden, vor allem jenes länd­li­chen, klassisch-modernen Chinas, das, wie seine Kinos, ebenfalls auf dem Weg zum Verschwinden ist: Eine staat­liche Fabrik, in der viele Figuren beschäf­tigt sind; alte Restau­rants, denen man ihre Jahr­zehnte ansieht; Tisch­tennis als Frei­zeit­un­ter­hal­tung für die Poli­zisten; die halb­ver­fal­lenen Häuser, die sich am Flussufer drängen...

So bietet der Film aufre­gende Einblicke in die Verfasst­heit des »Reichs der Mitte« abseits der poli­ti­schen Schlag­zeilen: Die Morder­mitt­lung treibt den Film voran. Der Clou des Ganzen liegt aber darin, dass die aus Perspek­tive des Ermitt­lers anfangs scheinbar klaren Fakten immer mehr zwischen seinen Händen zerrinnen.
Ma wird von dem Bösen verschlungen, gegen das er vorgehen wollte. Alles scheint möglich; die Wahrheit aber scheint ungreifbar. Solche Unsi­cher­heiten sind im China von heute schon hoch­po­li­tisch.