Türkei 2001 · 106 min. · FSK: ab 6 Regie: Baris Pirhasan Drehbuch: Gül Dirican , Baris Pirhasan Kamera: Jürgen Jürges Darsteller: Ece Eksi, Lale Mansur, Luk Piyes, Ayla Algan u.a. |
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Ach ja, der Sommer... |
Knallrot leuchtet das Mohnfeld, über das man das junge Mädchen laufen sieht. Die Bilder sind grobkörnig, die Bewegungen leicht verlangsamt – ein Traum möglicherweise, jedenfalls ein besonderer, erhabener Moment gleich zu Beginn, der den Zuschauer wegzuführen scheint von der Realität. Gleich darauf ist sie wieder ganz da: Das gleiche junge Mädchen fährt Autoscooter irgendwo in einer Großstadt. Dann sieht man sie raufen, dann kommt sie nach Hause und wäscht sich den Dreck ab. Doch ihr Vater hat sie schon gesehen.
Esma ist nicht so, wie sich ihre Eltern das vorstellen. Die 12-jährige benimmt sich wie eine Junge, obwohl es für sie nach Ansicht der Eltern doch höchste Zeit wird, sittsam zu werden. Und ihre Noten sind eine Katastrophe: »Religion 6, Geographie 6« – da scheint klar, was geschehen muss. Das Mädchen soll über die Sommerferien zu ihrer strengen Tante aufs Land, fernab vom schlechten Einfluß der Großstadt soll sie lernen wie ein Mädchen zu sein hat. »Widerstand ist zwecklos.« sagt
die Mutter.
Doch auch in der Türkei des Jahres 1973 ist die Welt nicht mehr so, wie früher. Selbst auf dem Land geraten die Fundamente in Bewegung, beziehungsweise: die Menschen schauen nicht mehr weg, und erkennen daher einfach besser, wie brüchig diese Fundamente schon seit langem sind.
Sommerliebe ist die Geschichte einer doppelten Befreiung – dem Erwachsen-werden der jungen Esma und des Aufbrechens verkrusteteter Gesellschaftsstrukturen. Baris Pirhasan hat jetzt den in der Türkei bekannten Roman verfilmt. Er begleitet seine Hauptfigur dabei, wie sie die Schönheit der Provinz entdeckt, und zugleich ihre eigene Familie mit neuen Augen zu sehen lernt. Auf dem Land herrscht das Regime der alten Frauen. Voller versteckter Lügen und Geheimnisse scheint es nur darum zu gehen, »Unanständigkeit« zu vermeiden. Alle nerven sich, alle haben sich satt. Aber fortwährend tuscheln die Frauen, nur sorgsam bedacht, die Familiengeheimnisse zu hüten. Verborgen im Hinterzimmer, wohnt eine jüngere Tante von Esma, die gegen den Willen der Familie geheiratet hat. Jetzt ist ihr der Mann fortgelaufen, und sie droht, einen Teil ihres Erbes – ein Stück Land – zu verkaufen, um allein leben zu können.
»Fremde werden hier von Skorpionen angegriffen.« sagt einmal ein Junge im Dorf zu Esma. »Ich bin keine Fremde.« antwortet sie trotzig und bestimmt: Sie will den Konsens der Alten nicht akzeptieren, erst recht nicht, als da noch ein Junge aus der Nachbarschaft auftaucht, in den sie sich verliebt. Doch auch der trägt, wie sich herausstellt, ein Geheimnis mit sich herum...
Mit Sommerliebe gelingt Pirhasan eine eindringliche Familiengeschichte. Immer wieder zeigt er seine Hauptfigur Esma, wie sie sich in die Idylle eines Tagtraums flüchtet, ihrer scheinbar unveränderlichen Wirklichkeit entflieht. Und er zeigt, dass die Familie nicht nur Sicherheit und Geborgenheit liefert, sondern dass sie auch ein Apparat zur Unterdrückung und Abrichtung der Individuen sein kann.