Großbritannien/Kanada 2009 · 98 min. · FSK: ab 12 Regie: Sam Taylor-Wood Drehbuch: Matt Greenhalgh Kamera: Seamus McGarvey Darsteller: Aaron Johnson, Kristin Scott Thomas, Anne-Marie Duff, David Threlfall, David Morrissey u.a. |
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Etüden der Vergänglichkeit |
»I put a spell on you«, singt Screaming Jay Hawkins, und wüsste man nicht, dass Julia, die diese Platte gerade aufgelegt hat, die Mutter des wesentlich jüngeren Mannes in ihrem Wohnzimmer ist, dann würde man sie für seine Geliebte halten, so offenkundig flirtet sie mit ihm. Ziemlich offensichtlich auch hat diese Frau nicht alle Tassen im Schrank, aber es hatte sicher seinen ganz eigenen Reiz für einen 15-Jährigen, wenn es die leibliche Mutter war, die einem die neueste und beste Musik vorspielte, bei der man Schule schwänzen, rauchen, trinken und tanzen durfte, und dem Zuhause entfliehen konnte. Dieses Zuhause, das repräsentiert für den jungen John, die Hauptfigur von Nowhere Boy, seine Tante Mimi, deren Liebe von ganz anderer Art ist: strenger, mit hochgezogenen Augenbrauen, Moralpredigten und einem klar umrissenen Katalog an Sanktionen, wenn diese nichts fruchteten. Trotzdem ist Mimi im Grunde eine gute Seele. Sie wird später John seine erste Gitarre kaufen, sie wird es sein, die ihm am Ende den Rücken frei hält, als er seine ersten Schritte tut, die ihn auf der Karriereleiter der Pop-Kultur ganz nach oben führen sollen. Ein mildes, hinter der robusten Maske im Grunde sehr warmherziges Regiment, nicht nur im Vergleich zu dem der Schule, wo der Direktor seine Schüler so ständig wie folgenlos auf sein Zimmer zitiert, um ihnen mit kaum verhohlener sadistischer Lust den nackten Hintern zu verprügeln. Kristin Scott-Thomas spielt diese Tante Mimi, und es ist eigentlich schon Grund genug, in Nowhere Boy zu gehen, um diese großartige, und auch immer wieder ungemein schöne Darstellerin einmal mit Haushaltsschürze und Lockenwicklern in einer britischen Kleinbürgerküche stehen zu sehen.
Um Fetischismus und Lust, um versteckte Begierden und Varianten der Mutterliebe geht es in diesem Film, und auch wenn es dann doch nicht die Mutter ist, die den jungen John in die körperliche Liebe einführt, ist es eindeutig ein ödipales Drama, das im Zentrum dieser Geschichte steht, ein Hin und Her aus Anziehung und Zurückweisung, und die Zerrissenheit eines Jungen zwischen zwei sehr unterschiedlichen, jede auf ihre Art übermächtigen Frauen. Man erlebt die Geburt des Genies aus dem Geist des Matriarchats; die Hysterie eines jungen Mannes, der nicht weiß, wohin mit sich, und erkennt darin stellvertretend die vielen jungen Männer der Nachkriegszeit, deren Väter im Krieg geblieben oder dort traumatisiert sind, und die dann selbst unter dem Regiment der Frauen nur zu »Halb«-Starken wurden, zu »angry young men«, die nicht wussten, wohin mit ihrer Kraft. Dann kam Rock'n'Roll, und dann kamen die Beatles und die Dinge wurden anders.
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Liverpool in den fünfziger Jahren, das muss einfach eine großartige Stadt gewesen sein, in seiner Mischung aus dem Großbürgerstolz der alten Handelshafenmetropole und der Kraft des Industrieproletariats in den neuen Fabriken. Bereits der britische Regisseur Terrence Davies hat seiner Kindheit und Jugend in Liverpool in seinem autobiographischen Dokumentarfilm Of Time and the City ein großartiges Denkmal gesetzt – an das dieser Film natürlich nicht im entferntesten herankommt. Er will auch etwas anderes. Und auch Sam Taylor-Wood gelingt es erstaunlich gut, die Atmosphäre dieser verlorenen Zeit auferstehen zu lassen. Die Wunden des Kriegs waren kaum verheilt, und viele Briten fühlten sich mehr als Verlierer des Weltkriegs, denn als Siegermacht. Taylor-Wood, geboren 1967, ist eine bekannte Photographin und Video-Künstlerin aus dem Umfeld der Young British Artists. Ihre Arbeiten kreisen zum einem um Verfallsprozesse: Obst und tote Tiere verrotten im Zeitraffer. Das hat man zwar auch schon vor 20 Jahren bei Peter Greenaway gesehen, Kunstkritiker hat es aber nicht gehindert, dafür dann so schöne Formeln wie »Etüden der Vergänglichkeit« zu finden. Andere Werke zeigen schöne berühmte Männer in schwachen Situationen: den schlafenden David Beckham zum Beispiel, oder 28 Schauspielerikonen beim Weinen (»Crying Men«, 2002) – erschütterte Männlichkeit.
Auch Taylor-Woods erster Spielfilm zeigt nun einen jungen, also überaus vergänglichen Mann beim Weinen und beim Erschüttertwerden, bei vergänglichen Zuständen, und auch diesmal handelt es sich um eine kulturelle Ikone: Grundlage ist nämlich die Geschichte der Jugendjahre von John Lennon, der genau in dieser Woche 70 geworden wäre. Genau gesagt ist dies eine Adaption der Memoiren seiner Halbschwester Julia Baird, die vor allem über Lennons Liverpooler Teenager-Jahre handeln. Es gibt kaum eine Figur der Pop-Musik, die stärker zum Mythos geworden wäre als John Lennon. Nicht seine Beatles-Kollegen Paul, George, Brian und Ringo, die man hier als hochpubertierende pickelige 15-Jährige sieht, die rot werden, wenn ein Mädchen sie anguckt. Allenfalls Paul McCartney hat auch hier schon ein paar genialische Momente, wenn er die Gitarre hält, zu singen anfängt, mit John unterm Dach gemeinsam komponiert, da ist dann schon zu ahnen, dass hier etwas Großes heranwachsen könnte. Der Moment, an dem Paul und John sich zum ersten Mal trafen, in einer Turnhalle in Liverpool, einer der großen Momente der Pop-Geschichte, das ist auch einer der zentralen Momente dieses Films.
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Künstler und Musikerbiographien sind generell fürs Kino ein gefährliches Pflaster. Gewöhnlich wird da einem Geniekult gehuldigt, versucht man irgendwie, dem Geheimnis des Künstlertums – und das ist schon als Topos eher fragwürdig – auf den Grund zu gehen, und heraus kommt meistens Kitsch. Eine Ausnahme war Control über Joy-Division-Sänger Ian Curtis. Auch dies war ein Debüt, und
mit Anton Corbijn war es auch damals ein bekannter Photograph. Matt Greenhalgh war damals, wie in diesem Fall der Drehbuchautor. Trotzdem überwiegen deutlich die Unterschiede.
Immer wieder zeigt Nowhere Boy einen weinenden John. In diesen Tränen entlädt sich kein späteres Genie, kein Beatle-Maniac, keine hysterische Diva. In ihnen entladen sich die Dramen vieler Kindheiten und so hat dies etwas universal Tröstendes. Nicht um Sentimentalität, sondern um
Befreiung geht es. Große Männer weinen nicht mehr, kleine dagegen schon, und das ist auch gut so.
Ist dieser Typ da, der Musik macht, und ein bisschen in seine Mutter verliebt ist, nun John Lennon? Das ist am Ende vielleicht die überflüssigste Frage bei dieser ansonsten schönen, klaren, wohlgefälligen Geschichte über das Erwachsenwerden in den 50er Jahren und den Zauber, den jede Jugend besitzt.