Der nackte König – 18 Fragmente über Revolution

Schweiz/PL/D 2019 · 112 min. · FSK: ab 12
Regie: Andreas Hoessli
Drehbuch:
Kamera: Peter Zwierko
Schnitt: Lena Rem
18 Fragmente über Revolution – Menschen und ihre Sehnsucht nach Veränderung
(Foto: W-Film)

Die Schönheit des Unbestimmten

Die Revolte ist ein Abenteuer des Herzens: Ein Filmessay über Solidarność in Polen, die iranische Revolution und das Epochenjahr 1979

»Wenn ich Fragen zur Revo­lu­tion stelle, stelle ich Fragen über mich selbst.«
Negar Tahsili (geb. 1979), iranische Filme­ma­cherin

1979 war ein epochales Jahr, ein Schick­sals­jahr womöglich in der Welt­ge­schichte und in den Erin­ne­rungen derje­nigen, die es damals erlebten.

Der große Streik der Werft­ar­beiter in Danzig, angeführt von Lech Walesa, der den real-exis­tie­renden Sozia­lismus heraus­for­derte, zunächst massiv per Ausnah­me­zu­stand nieder­ge­schlagen wurde, schließ­lich aber Glasost, Pere­stroika und den Umbruch hinter dem Eisernen Vorhang einlei­tete.
Der Aufstand gegen den Schah von Persien, der zur Rückkehr des Ayatollah Khomeini führte, zur Isla­mi­schen Revo­lu­tion im Iran und jene Welle des isla­mi­schen Funda­men­ta­lismus auslöste, die bis heute Demo­kratie und Westliche Werte bedroht.
Die Wahl von Margaret Thatcher und mit ihr der Beginn der neokon­ser­va­tiven Zerschla­gung des Wohl­fahrts­staates.
Der Aufstieg Deng Xiaopings zur chine­si­schen Staats­spitze; der Sieg der Sandi­nisten in Nicaragua; die Geisel­nahme in der Teheraner US-Botschaft; der Einmarsch der Sowjets in Afgha­ni­stan; der Atom­un­fall bei Harris­burg; in der Bundes­re­pu­blik die Gründung der GRÜNEN und die Ausstrah­lung der Serie »Holocaust«, die mit Einschalt­quoten von bis zu 40 Prozent und mehr als 20 Millionen Zuschauern ein Straßen­feger und Meilen­stein der Erin­ne­rungs­kultur wurde – all das sind Ereig­nisse aus dem Jahr 1979; Ereig­nisse, die die Welt erschüt­terten. 1979 war ein Jahr des welt­weiten Umbruchs und Auslöser von Entwick­lungen, die bis heute nicht beendet sind.

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Vieles ist unauf­ge­ar­beitet, manches in Scha­me­cken unseres poli­ti­schen Bewusst­seins versteckt. Nehmen wir nur die kata­stro­phale Iran-Politik der USA, der weder Helmut Schmidt, noch Valery Giscard d’Estaing noch die Briten Einhalt geboten – vor allem dem damaligen US-Präsi­denten Jimmy Carter, von Helmut Schmidt zwar treffend als »naiver Idealist« charak­te­ri­siert, der mit seiner mora­lis­ti­schen Menschen­rechts­po­litik alles zerstörte, was es an diskreten Banden und Bezie­hungen seit Ende der 60er Jahre zwischen dem Westen und Moskau als dem Kontra­henten im Kalten Krieg gegeben hatte. Und damit die Entspan­nungs­po­litik für fast zehn Jahre auf Eis legte. Carter, der heute als alter Mann wieder zu einem Idol des linken Amerika geworden ist, trägt persön­liche Mitschuld daran, dass aus dem isla­mi­schen Funda­men­ta­lismus weit über den Iran hinaus das wurde, was er heute ist.
Die kata­stro­phale Konferenz von Guade­loupe, die den Schah politisch zum Abschuss freigab in der Erwartung, westlich orien­tierte Militärs würden die Macht über­nehmen.

Ebenfalls unauf­ge­ar­beitet ist die poli­ti­sche »Anti­po­litik« (Györgi Konrad) des polni­schen Papstes, der wie ein Wieder­gänger Khomeinis in Polen landet, zur »Pilger­reise«, und vor Millionen Polen rheto­risch das Tor zu einer anderen Welt öffnete. »Beide inter­agieren in neuar­tiger Inten­sität mit Millionen von Menschen, die auf den Straßen sind, suchen das Gedränge und dieses Gedränge sucht sie. In beiden Fällen ist die Religion plötzlich mit einer poli­ti­schen Spreng­kraft verbunden«, schreibt der Histo­riker Frank Bösch dazu in seinem Buch »Zeiten­wende 1979. Als die Welt von heute begann«

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Zwei Momente dieses Films, die sich einbrennen: Bilder des Schahs von Persien, seine Vertrei­bung und die Macht­er­grei­fung eines bösen alten Mannes mit einer erstaun­lich hellen Stimme, und einem Charisma, das schon damals unbe­greif­lich wirkte, wie jenes von Adolf Hitler: Der Ayatollah Khomeini. Und der junge Lech Walesa mit buschigem Schurr­bart, der zu den Werft­ar­bei­tern von Danzig spricht, die Demons­tra­tionen der Soli­dar­ność und der Gegen­schlag der polni­schen Diktatur, die den Ausnah­me­zu­stand verhängt, um die Gewerk­schaft zu zerschlagen.

Vor über 40 Jahren, zwischen 1978 und 1980, war der Schweizer Regisseur Andreas Hoessli zunächst durch ein Dokto­ran­den­sti­pen­dium – er forschte über Entschei­dungs­struk­turen in der Plan­wirt­schaft – dann als junger Auslands­kor­re­spon­dent dabei beim Streik in den Danziger Werften und dem Aufstand von Soli­dar­ność in Polen.

Als Regisseur kehrt er nun zurück und fragt sich, wie man ein System heute beschreiben kann, das nicht mehr existiert. Er trifft Leute von früher, Menschen, die ihn zum Teil besser kennen als er sich selbst – es sind nämlich unter anderem die ehema­ligen Geheim­dienst­leute, die bei seinen Polen-Besuchen auf ihn angesetzt waren, die den neugie­rigen Schweizer Reporter mit den guten Kontakten zur Oppo­si­tion auf Schritt und Tritt bei seinen Aufent­halten beglei­teten.

In den Geheim­dienst­be­richten – »Der Figurant verfügt über Kontakte zur Oppo­si­tion im Unter­grund. Er spricht die polnische Sprache. Zu prüfen sind Methoden, wie der Figurant für unsere Dienste ange­worben werden kann.« – wird abgewogen, wie man Situa­tionen herbei­führen könnte, »die geeignet sind, den Figu­ranten als Jour­na­list und Privat­person zu kompro­mit­tieren.«

Der ehemalige Geheim­dienst­chef und polnische Innen­mi­nister (1996-1997) Zbigniev Siem­iat­kowski erklärt die Methode:

»Sie werden in einer unan­ge­nehmen Situation aufge­griffen. Sie werden nervös. Sie sind in großen Stress. Jemand reicht Ihnen die Hand und sagt: Wir können eine Lösung finden. Sie haben die Wahl: Sie einigen sich oder aber bekommen ernst­hafte Probleme. Man schafft eine psycho­lo­gi­sche Situation der Übermacht der einen Seite. Bei der Anwerbung muss man zuerst einmal unter Schock setzen und wenn er sich daran gewöhnt hat, muss die Spannung noch gestei­gert werden. Und dann erst wird ihm die Hand gereicht. Der Betrof­fene wird dann nach dieser Hand greifen, und sich über die gereichte Hand freuen. Wenn er nicht unter Schock wäre, würde er die Zusam­men­ar­beit ablehnen. Aber bei Zwang funk­tio­niert das anders.«

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Zur gleichen Zeit eska­lierten im Iran die Unruhen gegen den Schah von Persien, die in die Instal­la­tion von Khomeinis Gottes­staat mündeten. Regisseur Hoessli paral­le­li­siert beide Vorgänge und verdichtet sie zu einem freien Nach­denken über das Wesen der Revo­lu­tion und ein Schick­sals­jahr der Welt­ge­schichte.

Dieser Film ist auf der einen Seite ein innerer Monolog des Regis­seurs über die eigene Vergan­gen­heit, über das, was geblieben ist von diesen beiden umstür­zenden Ereig­nissen des gleichen Jahres 1979/80.
Eine krei­selnde Über­le­gung in den Fußstapfen von Hannah Arendts »Über die Revo­lu­tion« und über das Wesen einer revo­lu­ti­onären Situation.

Es ist auch eine Medi­ta­tion über seine Profes­sion des neugie­rigen Beob­ach­ters und seines Willens zum Wissen, ob in der Gestalt des Reporter oder des Filme­ma­chers.

Vor allem aber ist dies eine Reise auf den Spuren eines großen älteren Kollegen: Ryszard Kapuściński, der polnische Reporter, der so gut schreiben konnte. Wir sehen hier Kapuściński in kariertem Hemd, in einer Welt grauer Geschmack­si­gno­ranz; er arbeitete in Räumen, die so voll­ge­stopft waren, wie man das heute gar nicht mehr kennt: Dort Papier­stapel, da Bücher­türme, hier Zettel, eine verlorene analoge Welt.

Der Repor­terin im geblümten Kleid sagt Ryszard Kapuściński auf die Frage, was ihn antreibe:
»Das ist eigent­lich immer die gleiche Sache, über die ich schreibe. Was mich schon immer faszi­nierte: Die Möglich­keit der Verän­de­rung der Welt. Die Verän­de­rung dessen, was existiert. Die Möglich­keit zur Verbes­se­rung der Bedin­gungen, unter denen Menschen leben. Das ist das Haupt­thema all dessen, was ich schreibe. Vor allem inter­es­siert mich der Mensch, seine Haltung, wie er auf die ihn umgebende Welt reagiert, und wie er diese zu verändern sucht.«

Kapuściński konnte so gut schreiben, dass seine Repor­tagen lite­ra­ri­schen Wert hatten, und der auch immer selbst ins Fabu­lieren geriet – heute weiß man, dass er mitunter Episoden erfand, Erleb­nisse konden­sierte, Figuren zusam­men­fasste, und all das tat, was man als Jour­na­list in Zeiten der poli­ti­schen Korrekt­heit nicht mehr tut. Damals aber hätte man so etwas nie »fake-news« genannt, sondern »Verdich­tung« und »höhere Wahrheit«. Weil das Entschei­dende nicht die Erfindung ist, sondern die Haltung, die dahinter steht.

Es kann im Jour­na­lismus nicht um das korrekte Aufein­an­der­häufen von Fakten gehen, nicht darum, jeden Halbsatz mit ein bis drei Fußnoten beglau­bigen zu können. Ein guter Reporter schaut zual­ler­erst mal überall hin und nirgendwo weg. Und dann schreibt er auf, was er sieht, was ihm im Gedächtnis geblieben ist. Ein guter Reporter, der macht sich tatsäch­lich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten.

Auf der anderen Seite jenseits von dieser berühmten Aussage von Hans-Joachim Fried­richs steht die Tatsache, dass man als Reporter selbst­ver­ständ­lich Partei ist, dass man selbst­ver­ständ­lich versucht, den Unter­drückten und Entrech­teten eine Stimme zu geben, der Kritik. Dass man versucht, der Macht etwas entge­gen­zu­setzen, einer Macht, die immer lauter ist als der Wider­stand, und die über diverse offene und vor allem versteckte Propa­gan­da­mittel verfügt, über Spei­chel­le­cker und Oppor­tu­nisten. Das wusste Kapuściński, weil er aus Polen kam.

Und so verstand er wahr­schein­lich mehr von dem, was sich im Iran ereignete, auch ohne Farsi zu verstehen, als es viele verstanden, die sich seit Jahren in diesem Land befanden. Und selbst­ver­ständ­lich schrieb einer, der als einer der ganz wenigen Jour­na­listen aus dem real exis­tie­renden Sozia­lismus des Kalten Krieges ins Ausland reisen durfte, selbst­ver­ständ­lich schrieb so einer, wenn er über eine Revo­lu­tion schrieb, einer­seits über die glor­reiche Geschichte der Revo­lu­tionen, über die ideal­ty­pi­sche Idee des Histo­ri­sche Mate­ria­lismus, und zugleich aber über die ganzen Lebens­lügen, offenen Unwahr­heiten, unein­ge­stan­denen Verbre­chen, über die Abgründe, über denen sich diese gloriose Geschichte wölbte. Selbst­ver­ständ­lich schrieb so einer über das, was im eigenen Land geschah.
Selbst­ver­ständ­lich meinte er, wenn er über die irani­schen Massen auf der Straße sinnierte, die gegen einen bestimmten Auto­ri­ta­rismus und Funda­men­ta­lismus der Macht oppo­nierten, und dabei ihre eigenen Funda­men­ta­lismen sofort ausprägten wie ihren eigenen Auto­ri­ta­rismus, ihre eigenen Lebens­lügen und selbst­ver­ständ­lich sofort ihre eigene Propa­ganda – selbst­ver­ständ­lich schrieb ein solcher polni­scher Reporter auch über Soli­dar­nosc und über den Arbei­ter­auf­stand in den Werften von Danzig.

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Kapuścińskis Geschichte schafft den direkten Brücken­schlag zum Iran. Denn Ende 1978 ging er für die staat­liche polnische Nach­rich­ten­agentur nach Teheran. So werfen wir mit Kapuścińskis Augen den Blick auf Teheran 1979.
Vom heutigen Polen zeigt der Film kaum etwas. Sondern Archiv­auf­nahmen. Um so mehr vom heutigen Iran. Man sieht das Land Iran, wie es wirklich aussieht. Norma­lität, Alltag, Menschen wie wir.
Und ein paar Wahn­sinns­bilder aus dem Archiv: Rhyth­misch skan­die­rende Männer­massen, Menschen, die fünf Stock­werke hoch dicht gedrängt auf einem Gebäude stehen. Ein anschwel­lender Sturm. Sie zeigen, warum die Gescheh­nisse im Iran eine Revo­lu­tion waren, die in Polen »nur« ein Aufstand.

Der Regisseur fragt in seinen Notizen: »Warum eigent­lich sind auf den Filmen und Foto­gra­fien aus der Zeit der Revo­lu­tion im Iran fast immer Menschen­massen zu sehen? Und warum sehen diese Szenen fast immer genau so aus, wie man sich Bilder einer Revo­lu­tion vorstellt? Und warum suchte ich in den polni­schen Archiven vergeb­lich nach Film­auf­nahmen, die unseren Vorstel­lungen von Bildern einer Revo­lu­tion entspre­chen?«

Viel­leicht weil es die Bilder nicht gab. Außer beim Papst­be­such im Sommer 1979, den Hoessli nicht zeigt.
Weil »Polen« ein Streik war, ein Protest, aber keine Umwälzung aller Dinge.

Der Iran aber war Kapuściński eine Folie für Polen.

»Alle Geschichten über die Revo­lu­tion beginnen mit einem Kapitel, in dem von der Fäulnis, dem Zerfall der Macht oder den Leiden des Volkes die Rede ist. Dabei sollte sie eher mit einem Kapitel Psycho­logie beginnen. Das davon handelt, wie ein gepei­nigter, furcht­samer Mensch unver­se­hens seine Angst ablegt, und Mut fasst. Dieser unge­wöhn­liche Prozess, der sich manchmal nur über einen Augen­blick erstreckt, wie ein Schock, wie eine Läuterung, müsste bis ins Detail beschrieben werden. Der Mensch schüttelt die Angst ab und fühlt sich frei. Das ist eine Voraus­set­zung für die Revo­lu­tion.«

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Negar Tahsili (geb. 1979), eine iranische Filme­ma­cherin und bildende Künst­lerin, und zu jung, um dabei gewesen zu sein, setzt andere Akzente: »Ein Gedanke, der einen nicht loslässt: Wenn ich Fragen zur Revo­lu­tion stelle, stelle ich Fragen über mich selbst. Wenn ich über die iranische Gegen­warts­ge­schichte nachdenke, dann denke ich in Wahrheit über mich selbst nach. Denn die Revo­lu­tion hatte einen viel direk­teren Einfluss auf mich, als auf jemand in Europa, wenn Atmo­s­phären sich verändern, Spiel­fi­guren umge­stellt werden.«

Die Menschen, die damals auf die Straße gingen, entschieden für sich selber: Niemand kann mich aufhalten.

»Diese Menschen, die an den Protesten beteiligt waren, haben wahr­schein­lich andere Gefühle als ich, wenn sie diese Film­bilder sehen, Gefühle, die ich leider nicht haben kann. Nämlich dass sie sich in diesen Bildern selbst suchen. Doch ich weiß nicht, wie und warum: Obwohl es mich damals noch nicht gab, und meine Eltern viel­leicht nicht dabei waren... Ich weiß nicht, warum ich mich in diesen Bildern selbst suche. Da ist etwas sehr seltsames auf Bildern, auf denen sehr viele Menschen zu sehen sind, und du dich selbst suchen kannst, ein sehr persön­li­ches Gefühl und ich spreche darüber viel­leicht zum ersten Mal. Ich fühle, dass mein Mund nach Blut schmeckt.«

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Es sind ambi­va­lente Erfah­rungen und diese inein­ander zu einem komplexen Gesamt­bild verschach­telten Ambi­va­lenzen, die man auch einfach »die mensch­liche Wirk­lich­keit« nennen könnte, sind das Thema von diesem Film.
Das Thema ist die Tatsache, dass es viele Wahr­heiten gibt, und hinter diesen wahr­schein­lich auch eine Wahrheit, dass diese Wahrheit sich aber auch dem aufge­schlos­senen Blick immer wieder entzieht und immer gefärbt ist durch die Position dessen, der sie sucht.

Der nackte König ist ein faszi­nie­render, ebenso sinn­li­cher wie kluger und anre­gender doku­men­ta­ri­scher Essay mit zum Teil atem­be­rau­bendem Archiv­ma­te­rial; ein Film über Glück und Unglück von Revo­lu­tionen, der von einer Fülle aufrüt­telnder, aber auch nach­denk­lich und melan­cho­lisch stim­mender Bilder getragen wird.

Waren diese Aufbruchs­stim­mungen, von denen ihre Teil­nehmer ein ganzes Leben lag zehrten, nur das trüge­ri­sche, schnell verblas­sende Zwinkern eines Augen­blicks?

»Die Revolte ist ein großes Erlebnis. Ein Abenteuer des Herzens. Der Akt der Revolte befreit uns vom eigenen Ich, vom Ich des Alltags, das uns mit einem Male klein und neben­säch­lich und alt erscheint.«

»In der Stadt herrscht eine neue Moral. Die Menschen sind offen und hilfs­be­reit. Ein neues Gefühl der Verbun­den­heit, alle Aggres­sionen sind verschwunden. Die Krimi­na­lität auf Null gesunken. Voll­kommen fremde Menschen fühlen plötzlich, dass sie sich gegen­seitig brauchen.«
Kapuścińskis Notizen, August 1980. Ich lese darin wie in einem Buch über die Stadt der Zukunft.

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War es die Schönheit des Unbe­stimmten, von der diese Menschen berührt wurden, und nach der sie sich zeit­le­bens zurück­sehnten?

Mit solchen und anderen Fragen beschäf­tigt sich dieser Film in einer poeti­schen Montage aus atmo­s­phä­ri­schen Aufnahmen, histo­ri­schen Doku­menten und Inter­view­frag­menten. Einen weiteren beson­deren Akzent setzt die durch den Film führende lite­ra­ri­sche Erzählung, die von Bruno Ganz einge­spro­chen wurde.

Hannah Arendt schrieb in »Über die Revo­lu­tion«, die Revo­lu­tion beruhe darauf, dass sie die exis­ten­zi­ellen Ängste aufhebe. Arendt spricht vom »verlo­renen Schatz« der Revo­lu­tion, wenn sie in ihrem Buch über die Revo­lu­tion Gedichte von René Char analy­siert, dem Angehö­rigen der Wider­stands­be­we­gung in Frank­reich. Er beschrieb das, was wir post­re­vo­lu­ti­onäre Menschen verloren haben. Aber worauf beruht dieser Schatz? Im Moment der Revo­lu­tion über­winden wir unsere Ängste, treten aus dem exis­ten­zi­ellen Rahmen heraus. Wir leben im Zustand der Euphorie, alles ist möglich. Der Welt wird die Hoffnung zurück­ge­bracht, dass sie besser sein kann. Die Revo­lu­tion im Iran und das Jahr Chomeinis und der Streik in Polen im Sommer 1980 bedeu­teten diesen Zustand. Die Gewißheit, dass man anders leben kann.

Der nackte König wird vom Verleih W-Film über die verlei­h­ei­gene Website im Netz gezeigt.

Frank Bösch: »Zeiten­wende 1979. Als die Welt von heute begann«; C.H.Beck Verlag, München 2019; 512 Seiten, 28 Euro