My Winnipeg

Kanada 2007 · 79 min. · FSK: ab 12
Regie: Guy Maddin
Drehbuch: ,
Kamera: Jody Shapiro
Schnitt: John Gurdebeke
Darsteller: Ann Savage, Louis Negin, Amy Stewart, Darcy Fehr, Brendan Cade u.a.
Schlafwandlerischer Psychothriller-Heimatfilm

Winnipeg, mon amour...

Das eine Bild, das sich auch fast drei Jahre nach der Premiere dieses Films im Forum der Berlinale ins Hirn einge­brannt hat, ist das der Pferde. Ein Stall­feuer, grausiger Kontra­punkt zu den zwei­stel­ligen Minus­graden des eisigen kana­di­schen Winters, versetzte sie derart in Panik, dass sie hinaus­ge­trieben wurden auf ein zuge­fro­renes Flussbett, das prompt einbrach unter ihrem Gewicht. Den ganzen Winter über ragten ihre Kadaver aus dem Eis, die Köpfe von der Todes­angst der letzten Sekunden erfüllt, und zunehmend versehrt von Wind und Kälte, ein Monument des Schre­ckens.

Horror und Bezau­be­rung liegen immer wieder so nahe zusammen in diesem Film, wie Traum und Sehnsucht, Fantasie und Erin­ne­rung. Ob die Episode mit den Pferden stimmt, wieviel Fanta­sie­par­tikel ihr Guy Maddin zugefügt hat – wer will das schon sagen? Entschei­dend ist das sowieso nicht für den Eindruck auf den Zuschauer. Eine »Doku-Fantasie« hat der Regisseur seinen Film genannt, das zeigt die ganze faszi­nie­rende Ambi­va­lenz eines Films, in dem viel­leicht gerade das, was am Authen­tischsten wirkt, das Ausge­dach­teste ist. Es ist schwer, jemandem, der ihn noch nicht gesehen hat, zu erklären, um was für einen Film es sich eigent­lich handelt, ohne dass das, was hier so beiläufig daher kommt, wie ein kurzer Tagtraum am Nach­mittag, schwerblütig und kompli­ziert klingt. Aber es ist ganz leicht fest­zu­stellen, dass dies alles wunder­schön ist. Und sehr kurz­weilig.

Der kana­di­sche Regisseur Guy Maddin, 1956 in Winnipeg geboren, ist einer der sonder­barsten Filme­ma­cher der Welt. Man wundert sich, warum er nicht schon längst auch Opern insze­niert, so überladen und undis­zi­pli­niert wirken seine Filme manchmal. Über 30 Filme hat er bisher gemacht, die meisten kurz, nur acht in Spiel­film­länge. Einen Doku­men­tar­film wollte er nie drehen, und viel­leicht ist der ganz eigen­ar­tige, unver­gleich­liche Stil, in dem Maddin erzählt, gerade aus dem Verlangen geboren, sich den Objek­ti­vitäts- und Eindeu­tig­keits­zwängen des Doku­men­tar­films zu entziehen.

My Winnipeg ist wie ein Bewusst­seins­strom, zusam­men­ge­setzt aus surrealen Anekdoten, wie jenen von den Pferden; aus beiläu­figen Beob­ach­tungen; aus kurzen präzisen Exkursen wie der Geschichte von den »Winnipeg Jets«, jenem legen­dären Eisho­ckey­team aus den 70ern, das irgend­wann abwan­derte und ein allmäh­lich verfal­lendes Stadion hinter­ließ; ein visueller Essay über die Wieder­kehr des Verdrängten und die Erin­ne­rung an Unbe­kanntes. Man sieht Bilder von einer Stadt aus Eis und Schnee, bei Nacht, von Zügen die einen Bahnhof verlassen, Wochen­schau­auf­nahmen aus den 20er bis 50er Jahren, dann wieder insze­nierte Passagen, die aber im Stil früher Stumm­filme, des Film-Noirs oder des Sechziger-Jahre-Auto­ren­kinos gedreht wurden. Der Song »Wonderful Winnipeg« evoziert zu Beginn wohlige Nostalgie. Doch die wird, obschon immer wieder auftau­chend, von Anfang an gebrochen. Beschwö­rend ist der Ton des Erzählers, der die Geschichte seiner Heimat­stadt, des »verschneiten, schlaf­wan­delnden Winnipeg«, als die seiner Liebes-Hass-Beziehung zu ihr erzählt. Dessen Worte von Flucht handeln, vom Wunsch diese Stadt zu verlassen, der so dringend ist, wie der, aus einem Alptraum aufzu­wa­chen. »Wie kann man überhaupt dem Tagtraum der Kindheit entkommen?«, fragt die Erzäh­ler­stimme, »wie kann man sich selbst wecken?« Und man erfährt, dass in Winnipeg, der alten India­ner­sied­lung, die dann zum Stütz­punkt für Pelzjäger und Pioniere wurde, mitten in der Weite der kana­di­schen Wälder, sich heute ein riesiger Bahnhof befindet, fort­wäh­rend viele Züge hinaus­fahren, wie eine ständige Auffor­de­rung, den Ort endlich zu verlassen. Aber dann ist da noch »Mutter – eine Macht, so stark wie alle Züge in Manitoba.«

Denn dieser Film ist nicht nur ein überaus subjek­tiver, hallu­zi­na­to­ri­scher Kinoessay über Maddins Heimat­stadt, es auch ein Psycho­thriller über eine Mutter-Sohn-Beziehung. Hätte Alfred Hitchcock je einen Doku­men­tar­film gedreht, dann hätte er so ausge­sehen wie dieser. Und weil die auto­ritäre, tita­nengleiche Mutter auch noch von Ann Savage gespielt wird, der wilden Femme Fatale aus Edgar Ulmers mythi­schem Film Noir Detour, die auch mit 87 Jahren in ihrer letzten Rolle – Savage starb ein Jahr später – nichts von ihrer Aura eingebüßt hat, im Gegenteil, ist dies alles auch eine – mystische, freu­dia­ni­sche, sehr persön­liche, darin ganz univer­sale – Reise ins Unter­be­wusst­sein des Kinos.