Kanada 2011 · 95 min. · FSK: ab 12 Regie: Philippe Falardeau Drehbuch: Philippe Falardeau Kamera: Ronald Plante Darsteller: Fellag, Sophie Nélisse, Émilien Néron, Danielle Proulx, Brigitte Poupart u.a. |
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Ein sanfter Lehrer |
Bereits auf der Vorpremiere im August 2011 eroberte die Filmadaption des Theaterstücks »Bashir Lazhar« von Évelyne de la Chenelière die Herzen der Zuschauer auf dem Locarner Filmfestival. Ein sehenswerter, warmherziger Film, der als beste kanadische Produktion ausgezeichnet und kürzlich für den Oscar in der Kategorie bester ausländischer Film nominiert wurde.
Ein Selbstmord im Klassenzimmer, begangen von der bei den Kindern äußerst beliebten Martine Lachance. Bevor die Lehrer sämtliche Schüler in den Schulhof bringen können, bekommen zwei der Kinder die Szenerie mit der hängenden Lehrerin zu sehen. Sie wird sich in ihr Gedächtnis brennen. Die Situation stellt die Schule vor eine ausweglos erscheinende Situation – was spielt sich in den Köpfen der Kinder ab, wer soll die Lehrerin ersetzen, was denken die Eltern, wer ist schuld? Die Antworten darauf soll eine Psychologin liefern, aber bereits am eilig einberufenen Elternabend wird schnell klar, dass dies nicht die heilbringende Lösung sein kann. Da erscheint wie aus dem Nichts Monsieur Lazhar, der sich – die delikate Situation respektierend – auf die frei gewordene Stelle mit fertigem Lebenslauf präsentiert und auf eine handfeste Lehrtätigkeit von 19 Jahren in Algerien zurückblickt. Überrumpelt, aber erleichtert, eine so baldige Lösung ihrer Probleme gefunden zu haben, willigt die Schuldirektorin ein.
Lazhar setzt – ganz im Kontrast zu seiner Vorgängerin – auf klassische Methoden: Bunte Zimmer sind ihm fremd, die von Martine eingeführte offene Sitzordnung wird wieder zurückgebaut, schon am nächsten Tag zückt er Balzac und setzt zum Diktat an. Die Kinder rebellieren, geben aber schließlich klein bei. Trotz des anfänglichen Missmuts bei den Kindern vermag er es, mit der Zeit ihr Zutrauen zu gewinnen. Er nimmt sie ernst und ist bei all seiner hölzernen, aus den Jahren gekommenen Art vor allem eines: authentisch. Sie spüren, dass sich ihr Schicksal mit seinem auf mysteriöse Weise verbindet. Und immer schwebt drohend und unvergesslich über dem Unterricht die tote Martine, das Thema Selbstmord, ihr Unterricht, ihr Bild. Nur im Schulhof sind die Kinder wirklich ausgelassen und unbeschwert.
Bei all seinem Bemühen, seinem Einsatz für die Kinder, wirkt Lazhar belastet, gezwungen, düster und zerbrechlich. Ein Geheimnis umgibt ihn, das er nicht preisgeben kann und wahrscheinlich auch nicht darf. Nur dem Zuschauer wird sehr früh ein Signal gegeben, dass es noch eine andere Seite von Lazhar gibt, die dem Schicksal der Kinder stark verbunden ist und die ihn in die Lage versetzt,– wohl viel besser als die einberufene Psychologin – ihren Schmerz, ihre Ängste, ihr Seelenleben nachzuspüren. Sein Geheimnis verbirgt sich in einem Paket, das er im Postladen bei einem Landsmann abholt und dessen Inhalt ihn nahezu paralysiert. Auch als die Arbeit der Psychologin beendet ist, die Kinder – wie er ironisch bemerkt – wieder gesund sind, bestehen die Spannungen im Klassenzimmer fort. Das von Oben auferlegte Verschweigen versagt gänzlich. Lazhar lässt nicht locker und kämpft zielstrebig dagegen an. Sein tief sitzender Motor ist das Aufarbeiten, das Auseinandersetzen mit dem Geschehenen. Wie ein Katalysator gelingt es ihm, aus den Kindern ihre verborgenen Ängste oder unausgesprochene Schuldzuweisungen hervorzulocken. Es ist ihm tiefstes Anliegen, die Situation wirklich aufzuarbeiten.
Letztlich ist der Film eine Kulisse für politische Vorgänge und Folgen in Algerien. Immer wieder bekommen wir Anspielungen präsentiert, oftmals auch nur in Form eines vagen Gefühls transportiert. Nur vor diesem Hintergrund kann Lazhar seine Empathie für die Kinder und all die Energie aufbringen, um zu einer Aussöhnung zu gelangen. Er weiß, dass er an ähnlichen Punkten bei sich selbst arbeiten muss und dass das Schweigen und Verdrängen nicht der Weg sind, die ihn weiterbringen. Das Thema seiner Schüler und sein eigenes sind eng miteinander verwoben.
Ein einfühlsamer Film mit einem hervorragenden Hauptdarsteller, der uns eine große Bandbreite menschlicher Gefühle ohne laute Gesten präsentiert. Ein stiller Charakter, aber ein Großer. Ein Plädoyer für das Verarbeiten und den leisen, aber hartnäckigen Kampf gegen das Schweigen.