Die Möllner Briefe

Deutschland 2025 · 101 min. · FSK: ab 12
Regie: Martina Priessner
Drehbuch:
Kamera: Ayse Alacakaptan, Julia Geiß
Schnitt: Maja Tennstedt
Die Möllner Briefe
Lesen, um zu verstehen...
(Foto: RFF Real Fiction)

Im Land der Weltmeister

Martina Priessners eindrucksvolle Dokumentation über die peinvollen Nachwehen des rassistischen Brandanschlags von Mölln zeigt, wie schwer Schweigen, aber wie schwer auch Reden sein kann

Deutsch­land ist Welt­meister. Nicht im Fußball, nicht im Umwelt­schutz, nicht im Sozi­al­staat. Welt­meister ist dieses Land im Töten von Migranten. Ein trauriger Rekord, der auf keiner WM-Tafel steht, aber in den Statis­tiken der EU genau so deutlich wird wie in Asal Dardans im Frühjahr diesen Jahres erschie­nener Spuren­suche Trau­ma­land. Das Land, dessen Bewohner so gerne in allem Welt­meister wären, führt hier seit Jahr­zehnten – schwei­gend, verdrän­gend, mit routi­nierter Gleich­gül­tig­keit. Was das selbst »im Guten« bedeutet, was es für die Hinter­blie­benen heißt, wie ein Land sich selbst seiner empa­thi­schen Anteil­nahme an dem rassis­ti­schen Brand­an­schlag von 1992 »entledigt«, zeigt Martina Priess­ners eindrucks­volle Doku­men­ta­tion Die Möllner Briefe.

Die Soli­da­ri­täts­briefe, in denen Hunderte von Menschen ihre Anteil­nahme und Soli­da­rität mit den Opfern des Anschlags ausdrückten, sind der Ausgangs­punkt von Priess­ners Film. Sie wurden damals von Politiker:innen und städ­ti­schen Archi­varen in Kondo­lenz­bücher gelegt oder öffent­lich­keits­wirksam entge­gen­ge­nommen – aber nie an die Adres­saten weiter­ge­geben. Das perfide Detail: die so wichtigen Worte der an der Trauer der Opfer Anteil­neh­menden blieben in Schub­laden, im Archiv, ungehört. Ausge­rechnet die Stimmen, die gehört werden sollten, um endlich einmal auch die andere Seite Deutsch­lands zu zeigen, wurden zum Schweigen gebracht. Zu spät ist es jetzt für eine Debatte, ist es aber auch zu spät für Aufar­bei­tung? Oder gerade jetzt, in Zeiten der Rückkehr rechter Gewalt und Macht, notwen­diger denn je?

Priessner folgt den Spuren dieser verlo­renen Briefe, sucht nach ihnen, rekon­stru­iert ihren Weg – und stößt auf den Abgrund deutscher Büro­kratie. Wer trägt die Schuld, dass die Briefe nicht weiter­ge­reicht wurden? War es Ignoranz, war es Absicht, war es das gewohnte Wegsehen, die noto­ri­sche »Schuld­un­fähig­keit« deutscher Verwal­tungen? Das Mitleid mit dem Archivar, der die Briefe verwahrt hat, wirkt grotesk, ein Vers­tändnis für insti­tu­tio­nelles Vergessen lässt sich scheinbar weder in Worte noch Bilder fassen.

Die Kamera begleitet Über­le­bende, die gelernt haben, mit dem Trauma zu leben. Einer von ihnen, İbrahim Arslan, hat eine Strategie gefunden: erzählen, erzählen, erzählen. In Schulen, vor Jugend­li­chen, vor Fremden. Jedes Mal, wenn er die Geschichte wieder­holt, schwinden die Symptome, das Husten, die Atemnot. Als würde das Sprechen eine Art Selbst­the­rapie sein – eine fragile Technik, die das Überleben ermög­licht. Aber auch eine Bürde: wieder einmal müssen die Opfer die Erin­ne­rung tragen, nicht die Täter­ge­sell­schaft.

Der Film zeigt, wie schwer Therapie sein kann. Ein weiterer Prot­ago­nist, bislang Einzel­gänger, findet erst durch die Arbeit mit einer Opfer­be­ra­terin einen neuen Weg, sich zu öffnen. Doch auch hier mischt sich Hoffnung mit Skepsis: »Tut dir das gut, dich immer wieder mit der Vergan­gen­heit zu beschäf­tigen?«, fragt seine Frau, zweifelnd, fast ängstlich. Eine Frage, die über den Film hinaus­weist. Denn in Deutsch­land wird Erin­ne­rungs­po­litik stets mit Miss­trauen betrachtet – lieber ein Schluss­strich, lieber Schweigen, lieber Weiter­gehen.

Brisant macht den Film auch der Riss zwischen den Betrof­fenen selbst. Familien, die Tote zu beklagen haben, fühlen sich näher am Zentrum des Schre­ckens als dieje­nigen, die »nur« mit dem Trauma leben. Opfer­kon­kur­renz: auch das ein häss­li­ches Erbe von Anschlägen, das nicht die Täter, sondern die Gesell­schaft produ­ziert.

Die Möllner Briefe ist kein elegantes Erin­ne­rungs­stück, keine runde Gedenk­ver­an­stal­tung im filmi­schen Gewand. Es ist ein stiller, beklem­mender Störfilm. Er lässt uns stolpern über die deutsche Selbst­zu­frie­den­heit, er legt den Finger in die Wunde, er zeigt das Wegsehen und die Beschwich­ti­gungen. Er zwingt, das Schweigen der Archive, das Schweigen der Politik und das Schweigen der Mehr­heits­ge­sell­schaft endlich als das zu benennen, was es ist: ein zweites Verbre­chen.

Am Ende stellt sich die Frage, ob ein Land, das sich in seiner Gleich­gül­tig­keit derartig insti­tu­tio­nell einge­richtet hat, überhaupt fähig ist, diese Briefe je als das wahr­zu­nehmen, was sie sind: Die Hoffnung, dass es auch ein anderes Deutsch­land geben könnte.