Mexiko 2011 · 114 min. · FSK: ab 16 Regie: Gerardo Naranjo Drehbuch: Mauricio Katz, Gerardo Naranjo Kamera: Mátyás Erdély Darsteller: Stephanie Sigman, Juan Carlos Galván, Noé Hernández, Irene Azuela, Javier Zaragoza u.a. |
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Sieht hier nicht danach aus, ist aber ein gesellschaftskritischer Film über den Drogenkrieg |
Es ist ein Aschenputtel-Traum, den Laura träumt: Eine Karriere in Schönheitswettbewerben erscheint dem Teenager-Mädchen und ihrer Freundin aus einer Provinzstadt in Baja California im Norden Mexikos als eine der seltenen Chancen, um ihren armen, recht aussichtslosen Lebensverhältnissen zu entkommen. Laura, das wird in den wenigen Alltagsmomenten des Filmbeginns klar, hat sich schon im jungen Alter eine gewisse Härte angewöhnt; sie macht sich wenig Illusionen und weiß, dass diese Szene der Casting- und Schönheits-Shows nicht nur mit Entbehrungen im Training, sondern mit Ausbeutung verschiedenster Art und mancher Erniedrigung einhergeht.
Auf das, was ihr aber nun tatsächlich passiert, ist auch sie nicht vorbereitet. Sie wird für ihren Traum bitter bezahlen müssen. Beim Besuch einer Tanzveranstaltung gerät Laura mit ihrer Freundin zufällig in eine blutige Schießerei zwischen Polizei und Drogenmafia. Sie kommt gerade noch mit dem Leben davon, doch sie hat zuviel gesehen, wird bedroht, und bald zwingen sie zunächst ein lokaler Drogenboss, später dann auch die Polizei in die Rolle der Komplizin und eines Lockvogels für die jeweilige andere Seite hinein. Laura ist in einer Zwickmühle und ihr Ende scheint vorgezeichnet: Eine wie sie kann aus solcher Lage nicht wieder herauskommen. So erlebt die von Stephanie Sigman in ihrem Schauspieldebüt eindrucksvoll gespielte Hauptfigur von Miss Bala eine körperliche wie psychische Achterbahnfahrt, einen Höllentrip, der sie und uns im Publikum mit ihr wie von selbst tief in die Abgründe der mexikanischen Gesellschaft hineinführt.
Der Blick auf diese Gesellschaft ist ehrlich in seiner Ungerührtheit. Dieser Film schaut nicht weg, wo es um die Korruption und moralische Abgründe der Behörden geht, er verklärt nicht das Mafialeben, macht allerdings schon klar, warum vielen Menschen vor allem in den nördlichen Provinzen gar keine Wahl bleibt, als für die Drogenkartelle zu arbeiten, oder zumindest mit ihnen zu kooperieren. Zugleich fängt Regisseur Gerardo Naranjo viel vom alltäglichen Lebensgefühl der Mexikaner ein, zeigt auch fröhliche Momente und Glück.
Es dominiert aber ein grundsätzlicher anthropologischer Pessimismus und ein existentieller Ernst: Diese Welt ist schmutzig und böse, und die Menschen haben über den Moment hinaus wenig zu hoffen. Das verbindet Miss Bala mit der Film-Noir-Tradition eines gesellschaftskritischen Genrekinos, die im mexikanischen Kino seit jeher lebendig ist. Der Film ist allerdings fast gänzlich frei von Zitaten und offenkundiger Selbstreflexion – als ob derlei dem Regisseur zu verspielt erschien. Er zieht die reale Welt fraglos der des Kinos vor, und benutzt den Nebenhandlungsstrang der Casting-Shows und Schönheitswettbewerbe – Laura kommt hier im Laufe des Films sehr, sehr weit – dazu, die Künstlichkeit und den Scheincharakter dieser medialen Oberflächen gegen das Geschehen hinter den Kulissen und »das wahre Leben« auszuspielen.
Unter der Hand erzählt dieser souverän inszenierte, harte Thriller beiläufig also eine Menge darüber, was auf den Straßen und in den Köpfen Mexikos derzeit gerade los ist. Mexiko erscheint als ein Land, in dem Anarchie, Korruption und Verbrechen das Gesetz längst überwunden haben.
Der Regisseur, der selbst aus großbürgerlichen Verhältnissen stammt, und in seinen bisherigen zwei Spielfilmen – Drama/Mex (2006) und vor allem dem furiosen Godard-Verschnitt Voy a explotar (2008) – sehr authentisch, ohne Überheblichkeit und falsche Anbiederung, und jenseits der bekannten Gesten des Naturalismus und sozial engagierten Kinos von den armen Leuten erzählt, musste für diesen Film und seine Ehrlichkeit bitter bezahlen: Der ungeschminkte Einblick führte zu unmissverständlichen Drohungen von Seiten der Drogenkartelle, und Naranjo hält sich seit über einem Jahr in Europa auf.
Nichtsdestotrotz ist Naranjo, und das belegt Miss Bala, die führende Stimme der jüngeren Generation des derzeit boomenden mexikanischen Kinos, das qualitativ zu den besten Lateinamerikas gehört. Nachdem vor gut zehn Jahren das Dreigestirn der heute um die 50-jährigen Afonso Cuaron, Alejandro González Iñárritu und Carlos Reygadas zusammen mit dem schon immer nach außen orientierten Guillermo del Toro, den Kameramännern Rodrigo Prieto und Emmanuel Lubetzki, sowie dem Drehbuchautor Guillermo Arriaga das Weltkino, bringen jetzt mehrere gut 30-jährige Regisseure neue Erfahrungen, und konkretere, mehr »mexikanische« Geschichten auf die Leinwand: Naranjos Voy a explotar lief in Venedig, Miss Bala hatte in Cannes Premiere. Dort gewann dieses Jahr Michel Francos Después de Lucía den »Un certain regard«-Preis. Auch ein Regisseur wie Pedro González-Rubio, dessen (ausgezeichneter) letzter Film Alamar 2010 auf der Berlinale lief, ist dieser neuen mexikanischen Welle zuzurechnen.
Naranjo erzählt seine Geschichte in hochintensiven, mitunter minutenlangen Steadicam-Fahrten, die in ihrer permanenten Bewegung und Atemlosigkeit gelegentlich sogar an Inszenierungen des Hollywood-Meisters Michael Mann erinnern. Wie bei Mann halten sich Warmherzigkeit, stilistische Eleganz, Pathos und distanzierte Ironie in diesem hervorragenden Film die Waage. Unbedingt ironisch muss man auch den Titel verstehen: »Bala« bedeutet auf Spanisch nämlich nicht etwa Ball oder Tanz, sondern »Gewehrkugel«.