Meister der Träume

Nothingwood

F/D 2017 · 90 min. · FSK: ab 12
Regie: Sonia Kronlund
Drehbuch:
Kamera: Alexander Nanau, Eric Guichard
Schnitt: Sophie Brunet, George Cragg
Filmschaffen als Überlebensraum

Herr Sonia und die männliche Scheherazade

Unterwegs mit der Crew nach Musa Qala, eine Stadt in der südaf­gha­ni­schen Provinz Helmand. Die Frage Sonia Kronlunds, wohin es gehe, wirkt etwas verun­si­chert, was Sahim Shaheen mit liebe­vollem Spott­ge­sang beant­wortet. Plötz­li­cher Halt. Das Auto vor der Crew steckt fest. Shaheen zögert keine Sekunde, steigt aus, trommelt Helfer zusammen, gemeinsam befreien sie das Auto. »Ich bin nicht nur ein Star«, sagt der lachend, »ein Regisseur muss den Schwachen helfen.«

Macho­ge­habe, Eitelkeit, Selbst­ver­liebt­heit? Sicher. In einem anderen Lebens­kon­text würde man das Verhalten von Sahim Shaheen zunächst mal so inter­pre­tieren. Doch das hier ist Afgha­nistan. Vermut­lich muss man so sein, um das zu tun, was Shaheen tut. Er dreht hier Spiel­filme, meist mit sich in der Haupt­rolle, oft humor­volle Action­filme mit Happy End, Auto­bio­gra­fi­sches – uner­müd­lich, erfolg­reich. Wobei sich »Erfolg« hier nicht materiell bemessen lässt, sondern an den Menschen­trauben, sprich Männer­trauben, die sich um den Mitt­fünf­ziger versam­meln, egal, an welchem Ort er auftaucht.

Die fran­zö­si­sche Afgha­nistan-Korre­spon­dentin und Filme­ma­cherin Sonia Kronlund hat das Phänomen Sahim Shaheen aufge­sucht und ihn in ihrem Doku­men­tar­film Meister der Träume während der Dreh­ar­beiten zu seinem 110. Spielfilm begleitet. Wie kann filmische Fiktion reali­siert und gezeigt werden in einem Land wie Afgha­nistan, wo bereits mehrere Gene­ra­tionen Menschen ihre Heimat ausschließ­lich im Kriegs­zu­stand kennen, in der keine Woche ohne Terror­an­schläge, Tote und Verletzte vergehen?

Diese Fragen liegen auf der Hand, und sie werden im Film auch beant­wortet. Dabei zeigt Kronlund viel mehr. Mutig thema­ti­siert Meister der Träume unter anderem die Abwe­sen­heit von Frauen in der Öffent­lich­keit, posi­tio­niert sich eindeutig durch kluge Frage­stel­lungen Kronlunds und die viel­sa­genden Beob­ach­tungen der Kamera von Alexandre Nanau und Eric Guichard. Die lebens­ge­fähr­li­chen Hürden und Hinder­nisse sind da, sie sind die Kulisse, die sich nicht igno­rieren lässt für das große Trotzdem, das Shaheen in seine genauso großen Hände nimmt. Er ist eine männliche Sche­he­ra­zade, die Erzäh­lerin, die den König dazu bringt, sie am Leben zu lassen, weil seine Gier nach Geschichten stärker ist als seine Mordlust und der sie, statt sie zu töten, immer wieder um eine Fort­set­zung bittet – 1001 Nacht, 110 Filme. Dieser Vergleich drängt sich spätes­tens dann auf, als ein anonymer Tali­bankrieger im Gespräch mit Kronlund zugibt, dass Shaheen trotz Bild­nis­ver­bots der Taliban auch unter den Kämpfern eine Fange­meinde hat.

Meister der Träume ist ein Künst­ler­por­trät und Making-of-Doku­men­ta­tion, die weit über sich hinaus­weist: beab­sich­tigt oder nicht geht es ganz zentral um die magische Bedeutung von Rollen­spielen, die Überleben zwar nicht sichern, aber immerhin möglicher scheinen lassen. Auch Regis­seurin Kronlund spielt sozusagen mit, übernimmt, wie im Pres­se­heft nach­zu­lesen ist, den Part der Ängst­li­chen, um dem unge­stümen Fata­lismus Shaheens und seiner Mitstreiter etwas Vorsicht entge­gen­zu­setzen. Sie wird von ihm und seiner Crew jedoch nicht als ängst­liche Frau, sondern als einer von ihnen wahr­ge­nommen: Sie ist »Mister Sonia«, wie Shaheen, die männliche Shehe­ra­zade, sie einmal nennt. Ein Spiel, in dem sich die Rollen neu verteilen, ohne gespielt zu wirken.

Shaheen, der kaum lesen und schreiben kann, aber geboren ist mit einer uner­schöpfli­chen Lust an Bildern, einer Leiden­schaft, die andere ansteckt und selbst von Rake­ten­an­griffen nicht zu stoppen ist, über­windet nicht nur das von den Taliban aufer­legte Bild­nis­verbot und gibt seinem Publikum Kraft spendende Iden­ti­fi­ka­ti­ons­mög­lich­keiten. Seine Filme schaffen auch Über­le­bens­raum für seinen Schau­spieler Qurban, der in Shaheens Filmen seine wahre Identität ausleben und sich dank seiner Bekannt­heit auch über jeden Zweifel erhaben zeigen kann in einer Öffent­lich­keit, die ihn ohne Rollen-Kontext niemals akzep­tieren würde.

»Dies hier ist nicht Hollywood, nicht Bollywood, es ist Nothing­wood« – mit diesem tref­fenden Wortspiel von Shaheen beginnt Meister der Träume, der auch im Original »Nothing­wood« heißt. Unter großen Gefahren und schwie­rigen Dreh­be­din­gungen bringen Kronlund und ihr Team etwas ungeahnt Kraft­volles auf unsere Leinwände, bilden über­bor­denden Schaf­fens­willen ab, der buchs­täb­lich aus dem Nichts erwächst, immer wieder aufs Neue Wirk­lich­keit wird und genauso wahr ist wie endloses Leiden und Sterben in Afgha­nistan – Ein leben­diges »Nothing­wood«, das niemand erklären und niemand zerstören kann.