Belgien/L/F 2014 · 92 min. · FSK: ab 12 Regie: Bernard Bellefroid Drehbuch: Bernard Bellefroid, Carine Zimmerlin Kamera: David Williamson Darsteller: Rachael Blake, Lucie Debay, Don Gallagher, Laure Roldan, Clive Hayward u.a. |
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Arm und reich, jung und alt |
Das Thema Leihmutterschaft wird medial in der Regel über die Abhängigkeit von wirtschaftlichen Zentren und ihren wirtschaftlichen Peripherien verhandelt. Die Berichte über Indien als neue »Babyfabrik« der westlichen Welt sprechen Bände. Dass die gegenwärtigen wirtschaftlichen Zentren des Westens inzwischen erodieren und Subzentren ausprägen, lässt sich vor allem an den zunehmend prekären Verhältnissen der unteren Mittelschicht und den in Deutschland gern zitierten Hartz-4lern illustrieren. Wie diese Realität auch in Bezug auf Leihmütterschaft und paralleler Koexistenz aussieht, demonstriert zuerst mit thetischer Wucht, dann zarter, überzeugender, schauspielerischer Intensität der belgische Filmemacher Bernard Bellefroid in seinem neuem Film Melodys Baby.
Melody ist Bellefroids zweiter Spielfilm nach der verstörenden, dokumentarischen Bestandsaufnahme Gacaca – Tätige Busse Nach Dem Völkermord In Ruanda. Erzählte er in The Boat Race (2009) noch eine düstere Männergeschichte, um einen Sohn, der sich von der Gewalt seines Vaters emanzipieren will, konzentriert sich Bellefroid in Melody auf ein Kammerspiel zweier Frauen und ihrer völlig unterschiedlichen sozialen Hintergründe. Melody (Lucy Debay) hält sich als Friseuse in prekären Verhältnissen mit Hausbesuchen in einer mittegroßen französischen Stadt über Wasser, träumt aber von einem eigenen Salon. Als ihr eine preiswerte Immobilie angeboten wird, greift sie zu der Option, über eine Leihmütterschaft die Kosten dafür aufzubringen. Ihr wird die bereits ältere, englische Geschäftsfrau Emily (Rachael Blake) vermittelt und nach einem Besuch im diesbezüglich rechtsfreien Klinikbetrieb der Ukraine wird die Leihmütterschaft tatsächlich manifestiert. Womit allerdings weder Emily noch Rachael gerechnet haben, ist das emotionale Band, das sich plötzlich zwischen beiden Frauen zu entspinnen beginnt und sie gleichermaßen in ihre eigene Vergangenheit wie in eine vage Zukunft führt.
Bellefroid entfernt sich mit dieser Schwerpunktverlagerung des Plots geschickt von seinem Anfangs noch etwas zu thetischen Ansatz über die Koexistenz von Parallelwelten im Zentrum Europas und ihren wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Unerstützt wird er dabei von den überragenden schauspielerischen Leistungen seiner beiden Hauptprotagonisten Lucy Debay und Rachael Blake, die sich dafür auf dem Montrealer World Film Festival 2014 den Preis der besten Darstellerin teilen durften. Bellefroid gelingt damit nicht nur eine monothematische Abhandlung zu vermeiden, sondern bereichert die Geschichte über Leihmutterschaft und Arm-und-Reich-und-doch-Weiß-sein in Europa vor allem um moralische Grundsatzdiskussionen: er verhandelt ebenso die in Frankreich, aber nicht in England mögliche, anonyme Geburt, fragt sich aber auch, ob das Wissen über seine Wurzeln für die Entwicklung eines Menschen unerlässlich ist oder ob die eigene Sozialisierung der Schlüssel für das eigene Leben ist. Dabei lässt Bellefroid auch die essentielle Frage nicht aus, wie groß die Chancen eigentlich sind, der eigenen Sozialisation zu entkommen oder eine unheilvolle Vergangenheit mit jeder neuen Generation wieder und wieder replizieren zu müssen.
Melodys Baby ist bei allem theoretischen Diskurs dennoch ein stiller, poetischer Film, der mit einer intensiven, immer wieder überraschend auf sein Personal zentrierten Kamera Fragen nicht beantworten will, sondern vor allem den Ambiguitäten und Flexibilitäten unserer moralischen Realitäten Raum gibt und dabei einen ruhigen Fluss entstehen lässt, dessen Bilder und Begegnungen bei aller meditativer Intensität immer auch daran erinnern, dass der Stachel des Todes selbst bei dem Versprechen von neuem Leben nie ganz verdrängt werden kann.