USA 2011 · 102 min. · FSK: ab 16 Regie: Sean Durkin Drehbuch: Sean Durkin Kamera: Jody Lee Lipes Darsteller: Elizabeth Olsen, Christopher Abbott, Brady Corbet, Hugh Dancy, Maria Dizzia u.a. |
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Sonnendurchflutete Psychohölle |
Irgendwie kommen einem die Leute vertraut vor. Sie könnten Hippies sein, die versuchen, als Landkommune irgendwo in Amerika ein autarkes Leben abseits der Gesellschaft, der kapitalistischen Gesellschaft, zu führen. Die jungen Leute haben das Eigentum abgeschafft. Es gibt ein großes Ankleidezimmer, in dem an langen Wäscheleinen schmuckloses Gewand hängt, das sie sich wahllos überstreifen. Jeder kann alles anziehen. Es gibt auch keine festgelegte Schlafordnung, jeder sucht sich seine Bettstatt, wo er will. Das alles aber hat wenig mit einem Sponti- oder Hippie-Dasein zu tun. Die Kleidung verrät, dass die Leute hier rückwärtsgewandt sind, an die erzkonservativen Mormonen erinnernd. Mann und Frau sind beim Essen getrennt, an dem großen Tisch essen zuerst die Männer. Wenn sie fertig sind, dürfen die Frauen Platz nehmen und essen, was übrig ist. Einer mit funkelnden Augen hat das Sagen, und irgendwann wird er bestimmen: »Du bist eine Marcy May.« Marcy May hieß Martha, als sie zu der Gruppe stieß. Marlene wird ihr vierter Name werden, das erfahren wir später, denn so heißen alle Frauen, die sich mit ihm, dem Anführer, zusammengetan haben, ein Deckname, wenn sie mit der Außenwelt in Kontakt treten.
Gleich vier Namen also hat die Protagonistin. Martha Marcy May Marlene erzählt, wie sie es schafft, einer Sekte zu entkommen und dann heimgesucht wird von Erinnerungen, die sie zu deuten, einzuordnen versucht und die allmählich erkennen lassen werden, was passiert ist, in was für einer Sekte sie sich befunden hatte. Der Film ist aber genau eines nicht: ein Film »über«. Er ist vielmehr ein Film »mittendrin«, ein Film als Erkenntnisprozess, als langsame Ahnung, als Zusammenreimen, als schließlich erschreckendes Erkennen. Wie sich das Bild von der Assoziation an eine Hippie-Kommune in den ersten Szenen des Films wandelt zur Deutlichkeit, es mit einer Sekte zu tun zu haben, wird auch im weiteren Verlauf von Martha Marcy May Marlene kein Bild an seinem Platz bleiben. Die relativ »typische« Jugendfänger-Sekte, die mit fast schon abgedroschenen Fangsprüchen operiert (»die Deinen haben dich dein ganzes Leben in Stich gelassen«), wandelt sich bald zur ultraharten Sex- und Todesfalle für alle, die sich in der Sekte befinden. Diese Plotentwicklung aber ist nicht entscheidend bei Martha Marcy May Marlene. Entscheidend ist, wie der Film die Geschichte erzählt, und dies tut er in beklemmender Bravour.
Wie aus Mosaiksteinchen setzt sich in Martha Marcy May Marlene ganz allmählich eine Geschichte zusammen. Eine junge Frau wählt hastig über einen Münzfernsprecher eine Nummer. Es wird abgehoben, aber sie ist außer Stande zu sprechen. Am anderen Ende der Leitung ertönt die ungläubige Stimme, »Martha? Martha? Bist du das?« Es ist die Schwester, so erfahren wir später, beide haben seit Jahren nichts voneinander gehört, Martha, wie ihre Schwester sie nennt, war plötzlich weg, verschwunden. Jetzt ist sie wieder da, und in dem aufgeräumten Ferienhaus ihrer Schwester fällt erst mal nur auf: Martha ist irgendwie anders, ungezähmt, der Natur ganz nah, dabei ganz weit weg von dieser Welt, vielleicht verträumt, eher ein wenig weggetreten. Und dann taucht sie ganz langsam wieder auf, und mit ihr schwappen Bilder an die Oberfläche ihres Bewusstseins, die ihr etwas nahe bringen, das sie nicht so recht einordnen kann.
»Kann es sein, dass es keine Unterscheidung gibt zwischen Erinnerung und Traum?«, fragt sie ihre Schwester in einem der wenigen Momente, in denen sie überhaupt spricht. Martha redet nicht. Sie ist nur da, in einer wortlosen Erholung von etwas, das mit ihr passiert ist. Und das mit ihr immer noch passiert: Während die Erholung eintritt, beginnen Träume an das, was sie erlebt hat, zu wirken, Erinnerungen steigen hoch. Sie kommen ganz plötzlich, während sie vom Steg am See ins Wasser springt, während sie ihrer Schwester hilft, den Tisch zu decken. Sie wird von Erinnerungen heimgesucht, die ihr mehr und mehr Bilder aus der Vergangenheit liefern, aus der sie sich glaubte befreit zu haben, mit ihrer Flucht und der Hast zum Münzfernsprecher, damit ihre Schwester sie zu sich holt, in ihr Haus am See.
Die Erinnerungen liefern nur kurze Momente, wie ein Flash, der ein Bewusstsein durchzuckt, und eine Ahnung von einem Bild erstellt. Es ist die unbewusste Erinnerung, die sich hier einen Weg ins Bewusstsein von Martha schafft, hervorgerufen durch Handlungen, die sie unmittelbar in die hinter sich gelassene Vergangenheit transportieren, genau wie die »mémoire involontaire«, wie sie der Erzähler bei Marcel Proust auf seiner Suche nach der verlorenen Zeit erlebt, und die, unbeeinflussbar vom Willen, in der Erinnerung eine ganze Welt wiederauferstehen lassen kann. Je mehr Martha sich erinnert, desto mehr setzen sich die Bruchstücke zu einem angstvollen Bild zusammen, irgendwann erscheint sie wie im Wahn, es ist eine langanhaltende Erinnerungsvergewaltigung, die ihr das Bewusstsein wieder zu nehmen droht, das sie gerade dabei war wiederzufinden. Und im selben Maße, wie die Vergangenheit beginnt, sie zu beherrschen, nimmt die Sekte ihre Fährte auf.
Sean Durkin hat mit seinem Debütfilm einen packend-qualvollen Sektenthriller geschaffen, der ganz von der verträumten, sonnendurchfluteten, dann immer düsterer werdenden und in die Finsternis abtauchenden Präsenz von Elizabeth Olsen getragen wird, die Martha Marcy May Marlene spielt. Und dabei geht es in dem Film um noch viel mehr als um eine Frau mit vier Namen, die einer Sekte entflohen ist und versucht, wieder Boden unter den Füßen zu finden. Der Film, ohne Psyche abzubilden, macht deutlich, wie Psyche arbeitet, mit uns arbeitet, wie man ihr ausgeliefert wird, sie die Realität bestimmen und einnehmen kann, bis sie ganz an die Stelle der Wirklichkeit getreten ist. Der Psyche kann sich keiner entziehen.
Stille. Noch durchtrennen klare Schnitte die Szenerie: Ein gutes Dutzend junge Menschen, zwei Kleinkinder, man hängt herum, ein paar arbeiten. Ein junger Mann auf einer Leiter hämmert laut am Dach eines Schuppens herum, eine Frau deckt den Tisch – eine normale Farm, denkt man zunächst. Arm, aber friedlich erscheinen die Verhältnisse. Dann gibt es Abendessen, und es fällt auf, dass nur die Männer am Tisch sitzen. Schweigend. Die Frauen bleiben zusammen im Nebenzimmer, irgendwie apathisch. Überhaupt schleicht sich von Anfang an ein Element der Beunruhigenden, latent Bedrohlichen in die Bilder. Dann sind die Männer fertig, nun dürfen auch die Frauen essen. Am Morgen danach, es ist noch nicht ganz hell, sehen wir, wie eine von ihnen leise das Haus verlässt, zunächst mit ruhigem Gang, dann immer schneller, ohne sich umzusehen, die einsame Straße überquert, und ihren Weg direkt in den Wald hinein sucht. Fast im gleichen Augenblick ruft ihr eine Männerstimme hinterher: »Marcy May!« Mit schnellen Schritten stürzt ihr ein Mann nach, auch in den Wald und nun spätestens ist klar, dass er nicht freundlich interessiert ist, sondern ein Verfolger.
Regisseur Sean Durkin filmt diesen Beginn mit der Zurückhaltung eines unbeteiligten Beobachters, fast als dokumentarisches Protokoll, und doch gelingt es ihm, uns von diesen ersten Sekunden an nicht nur zu Interessierten, sondern zu Beteiligten zu machen, zu Sympathisanten dieser Hauptfigur. Wir bangen mit ihr, als sie sich gleich darauf zwischen den Bäumen am Boden versteckt, wir sind erleichtert, als sie in der nächsten Szene in einem Diner unter anderen Menschen auftaucht, einen Cheeseburger ißt, und erstarren vor Schreck, als sie plötzlich einer mit Namen anspricht. Schon in den nächsten Augenblicken wird klar, dass sie offenbar mehrere Namen hat: Von einer Telefonzelle aus ruft sie an, offenbar zuhause. Dort heißt sie Martha, und man erfährt auch, dass dies alles in Upstate New York spielt.
Erst allmählich scheinen sich nach einigen Minuten die verwirrenden Eindrücke zu ordnen und so etwas wie Übersichtlichkeit einzustellen – aber die ist eben nur scheinbar. Nach dem Anruf wird Martha von ihrer älteren Schwester Lucy abgeholt, und wohnt nun für eine Weile bei ihr und ihrem frischgebackenen Ehemann Ted, einem Architekten, in deren prächtigem Haus am See in Connecticut. Alles lässt sich gut an, auch wenn Martha nicht viel reden will über früher. Lucy ist glücklich über das Wiederauftauchen der Schwester, zugleich trägt sie am Gefühl, etwas wiedergutmachen zu müssen, weil sie einst die offenbar eher tristen Verhältnisse und damit auch die kleine Schwester hinter sich ließ – wie in Steve McQueens Shame vor wenigen Wochen steht auch hier ein Geschwisterverhältnis im Zentrum, eine gemeinsame Vergangenheit, über die man kaum reden kann, die aber die Gegenwart weiterhin prägt.
Langsam zeigen sich in Marthas neuem Leben erste Haarrisse. Ihre Flucht gelang ihr zwar, doch in ihrem Inneren hausen weiter die Dämonen der Vergangenheit: Die so labile wie offene und experimentierfreudige Martha (flirrend zwischen Anziehung und Zurückweisung wunderbar gespielt von Elizabeth Olsen) wird von Flashbacks geplagt, mit deren Hilfe man zugleich mehr darüber erfährt, was sie während der vergangenen zwei Jahre gemacht hat: Offenbar ist sie in den Bann einer sektenähnlichen Gemeinschaft geraten, die von ihrem, vage an Charles Manson angelehnten Führer Patrick durch eine alttestamentarische Mischung aus Charisma, Gewalt und sexueller Abhängigkeit zusammengehalten wurde. Nun fürchtet sie, dass Vertreter der Gruppe sie verfolgen und zurückholen wollen, und es gibt plausible Gründe für diese Furcht: Denn einer der Rückblicke, die Martha immer wieder blitzartig heimsuchen, erzählt davon, wie die Gruppe nachts in ein Haus eindrang, dort vom Besitzer überrascht wurde, und diesen brutal niederstach. Zugleich fällt Martha die Wiedereingewöhnung ins normale Leben schwer, denn auch hier gibt es nichts umsonst. Das alte Grauen absoluter Unsicherheit wird durch einen neuen Terror der Geborgenheit abgelöst. In den ein bisschen spießigen Verhältnissen, in denen Lucy und Ted gerade ihr Leben einrichten, gibt es ebenfalls Kleidervorschriften, man darf nicht rauchen und nicht nackt schwimmen – »Hier gibt es Kinder« schreit Lucy hysterisch, denkt aber eher an ihren Ehemann.
Vor allem durch die weich gearbeiteten, oft ganz unmerklichen Übergänge zwischen Erleben und Erinnerung, gleicht Regisseur Sean Durkin subtil Marthas Gegenwart und Vergangenheit einander an. Beide Welten zeigen nur verschiedene Facetten der allgemeinen Repression. Beide spiegeln und kommentieren einander, selbst auf der Geräuschebene – sie zeigen unterschiedliche Familienmodelle, einmal bürgerlich, einmal hippieesk, die gemeinsam haben, dass in ihnen sehr klassisch die Männer als – auch sexuell – mächtige Väter und Namensgeber fungieren, die Frauen über Sex und Mütterlichkeit definiert und verfügbar gemacht werden.
Durkin entfaltet dieses packende Psychothrillerszenario in einem sehr eigenen Stil. Das ruhige Gleichmaß der Dramaturgie und die genau gebauten Schnittfolgen dienen dazu, den Zuschauer immer wieder im Unklaren zu lassen, auf welcher Zeitebene er sich gerade befindet. So gelingt es diesem Film meisterlich, die Unsicherheit seiner Hauptfigur auf die Zuschauer zu übertragen.
Martha, ist in beiden Welten eine Beobachterin, auch als Marcy May gehört sie nie ganz dazu. Das ist die sehr handfeste existentielle Einsicht, die der Film jenseits modischer Motive wie »Identitätskonflikt« und »Multiple Persönlichkeit«, die er streift, auch bietet. Denn es gibt ja im Titel auch noch einen vierten Namen: »Marlene« nennen sich alle Mädchen der Gruppe, wenn sie in Kontakt mit der übrigen Welt treten. Marlene, das ist die Schnittstelle zwischen Innen und Außen, Unfreiheit und Unsicherheit; Marlene ist das, was wir alle sind.