Lunchbox

The Lunchbox

Indien/D/F 2013 · 105 min. · FSK: ab 0
Regie: Ritesh Batra
Drehbuch:
Kamera: Michael Simmonds
Darsteller: Irrfan Khan, Nimrat Kaur, Nawazuddin Siddiqui, Denzil Smith, Bharati Achrekar u.a.
Essen transformiert Leben

Der falsche Zug zum richtigen Ziel

Um Miss­ver­s­tänd­nisse gleich zu Anfang auszu­räumen: Lunchbox ist KEIN „klas­si­scher“ Bollywood-Film, auch wenn er in der Heimat Bolly­woods, in Mumbai, gedreht worden ist. In Lunchbox wird nicht getanzt und nicht gesungen, dafür jedoch gekocht, gegessen und – nun ja – geliebt. Doch selbst dieser irgendwie schon „vorbe­las­tete“ Indo-Anteil sollte keine falschen indo-folk­lo­ris­ti­schen Erwar­tungs­hal­tungen wecken. Denn Ritesh Batra – sowohl für das Drehbuch als auch die Regie verant­wort­lich – hat sein furioses Debut nicht nur film­tech­nisch- und finan­ziell inter­na­tional einge­bettet, sondern auch seinen Plot behutsam „globa­li­siert“: denn die Geschichte um eine erkaltete Liebe in der indischen Mittel­schicht, die – wie überall sonst auf der Welt – von der Frau neue Nahrung zugeführt bekommt, könnte in ihrer Grund­kon­stel­la­tion tatsäch­lich überall spielen.

In zwei Punkten unter­scheidet sie sich jedoch gravie­rend von anderen Geschichten. Das ist zum einen das schlichtweg unver­gleich­liche, zu Hause gekochte Essen, dass Ila (Nimrat Kaur) ihrem Mann auf die Arbeit bringen lässt, um ihn wieder für sich zu gewinnen und zum anderen die Deux ex Machina, die Batra ersonnen hat, um genau diesen Versuch Ilas in ungeahnte Wege zu leiten. Denn wie in 200.000 andere Haushalte in Mumbai kommt um 11 Uhr auch zu Ila ein soge­nannter Dabba­walla, der für das Auslie­fern der Mahlz­eiten zuständig ist. Er trans­por­tiert den Henkel­mann alias Lunchbox zur nächsten Bahn­sta­tion und übergibt dort an den nächsten Dabba­walla, bis das Essen schließ­lich um die Mittags­zeit im Büro ihres Mannes eintrifft. Doch das auch von west­li­chen Wirt­schafts­wis­sen­schaft­lern unter­suchte und hoch­ge­lobte Dabba­walla-System, das eine erstaun­liche Fehler­quote von 1:6 Millionen aufweisen kann, erweist sich dieses eine Mal als fehler­haft und liefert wie auch in der Folge das Essen an den kurz vor der Rente stehenden Versi­che­rungs­buch­halter Saajan (Ihrfan Khan) aus. Da ihr Mann nach­weis­lich eine andere Lieferung erhalten hat, beginnt Ila Briefe in den Henkel­mann zu legen und Antworten zu erhalten, die immer auch die gekochte Mahlzeit thema­ti­sieren, gleichz­eitig aber auch die Trans­for­ma­tion der Betei­ligten unter­ti­teln. Beginnt für Ila eine zarte Eman­zi­pa­tion, erlebt Saajan die ebenso sachte Verwand­lung eines bis dahin verbit­terten Büro­an­ge­stellten.

Batra ist es dabei hoch anzu­rechnen, dass er weder den Weg west­li­chen Auto­ren­films noch den Bolly­woods eingleisig geht, sondern sich kongenial die Anteile beider sichert. Mal erinnert gerade die Chiffre „Essen“ und ihre gesell­schaft­liche Explo­si­vität an Gabriel Axels Babettes Fest, dann domi­nieren plötzlich seltsam verblümte Konven­tionen, so wie kürzlich in Gauri Shindes Englisch für Anfänger. Doch anders als Shinde in Englisch für Anfänger, entzieht sich Batra nicht nur durch das über­ra­schende Ende den gegen­wär­tigen gesell­schaft­li­chen Dogmen der indischen Gesell­schaft. Statt­dessen bedient er sich aus dem faszi­nie­renden Fundus der inzwi­schen hundert­jäh­rigen indischen Kino­ge­schichte, in der immer schon Drei­ecks­ge­schichten jenseits schaler, bunter Träu­me­reien Raum gehabt haben; Geschichten, in denen durchaus auch einmal der falsche Zug ans richtige Ziel gelangt – man denke etwa nur an Satyajit Rays benga­li­sches Meis­ter­werk Charulata.

Doch Lunchbox ist nicht nur eine unge­wöhn­liche, brilliant insz­e­nierte Liebes- und Freun­schafts­ge­schichte zwischen Menschen und ihrer gerade in Mumbai so ambi­va­lent rezi­pierten reli­giösen Hinter­gründe, Batra erzählt auch subtil und melan­cho­lisch die wech­sel­volle Liebes­ge­schichte seiner Prot­ago­nisten zu ihrer Heimat­stadt. Vor allem Saajan als Mitt­fünf­ziger erinnert sich noch an ein Bombay, das sich heut­zu­tage nur dann noch erschließt, wenn man in den frühen Morgen­stunden durch Stadt­viertel wie Fort und Colaba schlen­dert und auf Leute wie Saajan trifft, die sich bei aller Schönheit, die noch ist, auch und vor allem daran erinnern, was schon verschwunden ist. Und die einem raten, so schnell es geht noch die verblie­benen Inseln mit der eigenen Erin­ne­rung zu markieren, etwa die letzten verblie­benen parsi­schen Cafés: Die wunder­bare Bäckerei Yazdani mit ihren vergilbten Hofp­fis­terei-Plakaten, aus einer Zeit, als die Hofp­fis­terei noch nicht „öko“ war und ihren warmen, unver­gleich­lich köst­li­chen „brun maska“, knusp­rigen Brötchen, die mit zerlau­fener, salziger Butter serviert werden. Oder das legendäre Restau­rant Brittania and Co. von Boman Kohinoor, dessen nur zur Mittags­zeit ange­bo­tenen Berbe­ritzen-Pilaus allein schon ein Leben in Mumbai wert wären. Doch mit ihren über 90-jährigen Besitzern werden auch diese Orte vergehen; die Söhne, die jetzt noch ihren Vätern zur Seite stehen, haben bereits ange­kün­digt, dass sie sich ein Leben voller Arbeit, wie das ihrer Väter nicht mehr vorstellen können. Sie werden verkaufen und von den grotesken Immo­bi­li­en­preisen Mumbais profi­tieren.

Was dann noch bleibt? Die Erin­ne­rung. Und kleine filmische Meis­ter­werke wie Ritesh Bandras Lunchbox.