Venezuela 2024 · 68 min. Regie: Lorena Alvarado Drehbuch: Lorena Alvarado Kamera: Lorena Alvarado, José Ostos Schnitt: Lorena Alvarado Darsteller: Ena Alvarado, Ignacio Alvarado, Adela Rodriguez u.a. |
![]() |
|
Fernsehen als Lagerfeuer-Ersatz | ||
(Foto: Filmfest München · Lorena Alvarado) |
»Die Geschichte ist die Leidenschaft von Söhnen, die ihre Väter verstehen wollen.« – Pier Paolo Pasolini
Es beginnt mit einem Stapel alter Fotografien von Caracas: Einer Beschreibung des Vergangenen, und darin ebenso der Welt an sich – dem, was uns umgibt, worin wir uns bewegen, was wir letztendlich alle zu verstehen versuchen. Und doch sind sie nicht »Realität«, sind inszenierte Momentaufnahmen, perspektivische Zugänge, ästhetisiert und subjektiv.
Viel weniger als ein tatsächliches Dokument erfassen sie eine Stimmung, bilden den Nährboden von unzähligen
Assoziationen. Trotzdem bilden sie das ab, was nunmal wirklich vorhanden ist, sind gefrorener Blick eines Menschen, der dies einmal so wahrnahm.
Kurzum, es ist das Faszinosum »Dokumentarfilm«, das anhand von Standbildern angeschnitten wird. Bilder, das ist auch das richtige Wort für diesen Film, der statisch erzählt, seiner Kamera nur wenig Bewegung erlaubt. Geschieht dies doch, dann sehr zögerlich, unsicher – niemals versucht Los Capítulos Perdidos seinen Motiven ein Geheimnis aufzuzwängen, das nur durch einen geleiteten Blick gefunden werden kann, nie heuchelt er Gewissheit, darüber zu haben, was genau denn in diesen Bildern liegt. Der Film beschreibt die Gegenwart, er stellt sie dar, doch er verändert sie nicht, weder formal noch inhaltlich, er zwingt sich ihr nicht auf. Sprachphilosophisch könnte man behaupten: Die Realität zeigt sich durch diesen Film.
Der Clou ist aber nun, das Los Capítulos Perdidos ein Spielfilm ist, formal sicherlich mit dem Dokumentarischen flirtet (in einer ganz wunderbaren Szene etwa ist ein Dialog wie ein Interview gefilmt, das Gesicht der Gesprächsteilnehmerin beleuchtet, wie wir es aus dem Fernsehen kennen), reflektiert ihn allerdings mehr, als ihn anzunehmen. Die Story ist simpel gehalten, bildet lediglich den Ausgangspunkt, überhaupt begreift Alvarado ihr Werk nicht
erzählerisch, sondern kontemplativ – angereichert mit ein paar Motiven, die den Film begleiten und strukturieren. Da wäre zunächst einmal die Protagonistin Ena (Ena Alvarado – die Schwester der Regisseurin), die nach einer längeren Reise nach Venezuela zurückkehrt, zu ihrem Vater, dem ehemaligen Besitzer eines Buchladens, und zu ihrer Großmutter, die im hohen Alter immer mehr Probleme mit dem Erinnern bekommt, sich im Anfangsstadium einer Demenz befindet.
Viel
wird sich an dieser Situation nicht ändern, weder zum Positiven noch zum Negativen.
Vielmehr werden wir Zuschauer 68 Minuten lang Teil der Alltagsbeschäftigungen dieser Familie.
Im Zentrum steht dabei klar Ena, die sich wie ihr Vater für Literatur begeistert, auch selbst schreibt – für sich, nicht für ein Publikum wie sie beteuert. Währenddessen sammelt ihr Vater venezuelanische Bücher, die die Vergangenheit des Landes bewahren sollen.
Die Literatur also, das ist Erinnern und Erschaffen, schnell wird jedoch klar: Es ist in erster Linie Zeitvertreib. Gelesen werden dabei nicht nur Romane, auch Sachbücher und Gedichte kommen immer wieder vor,
meistens erzählen sie von früher – nicht jedoch im Sinne einer historischen Wissensansammlung, vielmehr offenbaren sie, dass sich nichts verändert hat. Politisch und ökonomisch sicherlich, doch das Gefühl des In-der-Welt-Seins, Räume und Landschaften zu durchqueren, ohne ihrer Herr werden zu können, das ist noch immer dasselbe.
Und so nimmt die Natur einen großen Platz ein in diesem Film, gerade in Verbindung mit in ihr errichteten Skulpturen oder Gebäuden. Es ist
bemerkenswert, wie klar hier Personen von ihrer Umgebung getrennt werden, wie sie immer fremd wirken, umgeben von einem sie überragenden und – seltener – erdrückenden Außen. Anstatt dies nun tragisch aufzufüllen, ein Übermaß an Mitleid für ihre Figuren aufzubringen, konzentriert sich Alvarado auf eben jenes Außen.
Die darin liegende (universelle) Menschlichkeit entsteht interessanterweise erst durch genau diesen fehlenden Fokus auf die Figuren, das Aussparen des (unweigerlich scheiternden) Versuchs des Ergründens ihres Innenlebens. Jenes wird dennoch greifbar, erneut durch das Äußerliche, durch die gewählten Kulissen und Orte, natürlich auch durch Perspektiven und die Montage, kurzum: durch die Form. In diesen Überbau dann schleichen sich die angesprochenen Motive ein, subjektivieren das Gezeigte und lassen den Dokumentar- zum Spielfilm werden.
Da wäre zunächst einmal der Fokus aufs Lesen, der in einer wunderbaren Dialektik aufgelöst wird:
Es beinhaltet einen sehr konkreten Blick auf die Welt und das (jeweilige) Zeitgeschehen, einen Zugang, die Wirklichkeit zu begreifen. Die Literatur bewahrt das Tatsächliche, ganz gleich ob es sich nun fiktional oder historisch veräußert. Zu gleichen Teilen jedoch ist in ihr ein Rückzug enthalten, eine Entfremdung vom Leben, eine ungemeine Vereinnahmung und Privatisierung. Wer
liest, tut dies alleine, wer (wie Ena) alleine schreibt, treibt dieses Prinzip radikal auf die Spitze.
Diese Individualität wird besonders deutlich, wenn die Familie vor dem Fernseher sitzt, eine Nachrichtensendung verfolgt: Der Ton des Films wird immer leiser, bis er schlussendlich verschwindet. Trotz all der Wörter, dem ganzen Lesen und Schreiben, wird die zeitgenössische (politische) Realität ausgeblendet. Man verharrt im Privaten, in der Frage nach einem
allgemeingültigen Sinn, der unabhängig von der Zeit den Menschen beschreibt.
Das Verstehen der Welt, das zeigt uns dieser Film, ist noch lange nicht gleichbedeutend mit einem Einfühlen in sie.
Und doch kann sich nicht davon gelöst werden, vom Ansammeln von Wissen, das ein ganzes Leben ausfüllen kann, die (eigene) Realität formen und sogar ersetzen. Der Vater etwa, dem es schon gar nicht mehr ums Lesen als solches geht, sondern um die Konservierung dessen, um ein striktes Bewahren, fast schon unabhängig von seiner Bedeutung. Ein Buch legitimiert sich auf diese Art selbst.
Am Ende dann steht das Vergessen, wie bei Enas Großmutter. So sehr der Film die Literatur (oder Kunst
im Allgemeinen) diskutiert, ist sie verloren, findet sie keinen Platz mehr im Leben, ist es der größte Verlust von allen, ein tatsächlicher Endpunkt.
Diese sanften fiktionalen Einschübe konkretisieren den Film, lassen ihn nicht nur Themen diskutieren, sondern auch permanent seine eigene Form hinterfragen, und schlussendlich über sie hinauswachsen: Er entdeckt das Wahre im Erdachten, das Sinnlose in der Realität.
Los Capítulos Perdidos ist ein unglaublich melancholischer Film geworden, ein so poetisches, kluges und nahbares Werk, wie es selten geschieht. Einer, der den Raum und die Zeit untrennbar miteinander verbindet, und so grazil und elegant durchschreitet, wie es diese Jahr nur wenige Werke vermochten. Ein ernsthaft schöner Film.