Irland/Großbritannien 2015 · 114 min. · FSK: ab 16 Regie: Yorgos Lanthimos Drehbuch: Yorgos Lanthimos, Efthymis Filippou Kamera: Thimios Bakatakis Darsteller: Colin Farrell, Rachel Weisz, Jessica Barden, Léa Seydoux, Ben Whishaw u.a. |
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Die einzige Filmfigur, die hier einen Namen hat, ist ein Mann namens David. Die Erzählerin aus dem Off – die sich viel später als eine von Rachel Weisz gespielte Filmfigur entpuppt – erzählt, sein Fall habe dann doch Maßnahmen erfordert, und er wird ein ein Hotel eingeliefert, das sich als Mischung aus Krankenhaus und Gefängnis entpuppt.
»Have you ever been on your own before?« – »No, never.« – »Your last relationchip lasted how many years?« – »Around twelve.« – »Sexual preferences?« – »Women. Is there a bisexual option available?« – »No, Sir, this option is no longer available.«
Man muss alle persönlichen Gegenstände abgeben und ist dem liebevollen Zwangsregime der Leiter hilflos ausgesetzt. Dieses Zwangsregime bezieht sich vor allem auf Paarbeziehungen und auf Sex. Die Neigung einer Hauptfigur zur Masturbation wird etwa damit bestraft, dass dessen Hand in einen aktiven Toaster gesteckt wird.
Ziel ist es, dass alle Insassen der Anstalt nach gewissen Regeln eine Paarbeziehung eingehen – was spätestens nach 45 Tagen geschehen sein muss. The Lobster, also Hummer heißt der Film, weil jeder Insasse für sich auch ein Tier wählen muss, zu dem er mutiert, falls er allein bleibt. David wählt einen Hummer, weil er »100 Jahre alt werden will und das Meer liebt«.
The Lobster des Griechen Yorgos Lanthimos ist ein sehr spezieller Film. Ein Film, der von Entfremdung erzählt, und zugleich eine Komödie über menschliche Gefühle. Am Anfang ist der Humor fast ein bisschen zu viel, jeder zweite Satz ein Gag, jede zweite Szene ein gespielter Witz. »Nonstop Nonsense« für Bildungsbürger. Das muss man nicht mögen. Denn darin ist der Film in seiner Machart repräsentativ für das Autorenkino unserer Tage, für seine unangenehmeren Eigenschaften. Er ist unnötig verkünstelt und verkopft, absurd und doof. Ein Film, der wenn er von Entfremdung erzählt, sich selber die Diagnose stellt, weil er bis zum Exzess selbst entfremdet ist. Auch ein weiterer jener Filme, die uns nicht sehr viel über uns selbst erzählen, und wenn, dann vor allem dort, wo unsere Reaktionen verräterisch werden. Ganz grundsätzlich liebt Lanthimos seine Mitmenschen etwa so sehr wie Ulrich Seidl: also gar nicht.
Aber der Film ist auch klug. Er ist sehr gut gemacht, schlau in seiner Form. Und voller subtilem Charme. So bezaubert er seine Zuschauer. Dies ist ein philosophischer Essay über Verhaltenslehren der Kälte: Ein Film über Freiheit, ihre Facetten und Abgründe. Zugleich auch ein Film über Selbstfesselung, eine makabere Satire über unsere Obsession mit Paarbeziehungen und der Familie als Utopie-Surrogat einerseits und über unsere Obsession fürs Alleinsein andererseits. Die Inszenierung ist so elegant wie exzentrisch, immer sehr kontrolliert, aber mit nur wenigen Kompromissen ans Hollywood-Kino.
Griechenland mag wirtschaftlich am Boden liegen – aber auch in diesem Fall stimmt das Klischee, dass ökonomisch prekäre Epochen oft Blütezeiten für die Kultur sind. Denn das Kino Griechenlands boomt wie seit Jahrzehnten nicht. Eine der Führungsfiguren der griechischen »Neuen Welle« ist der Regisseur dieses Films: Yorgos Lanthimos. In allen seinen Filmen – Dogtooth und Alpeis liefen auch in Deutschland – zeigt Lanthimos Gruppen, die durch enge, absurde, seltsame Regeln gesteuert werden, die keiner versteht, die aber den Protagonisten als höchst selbstverständlich erscheinen. In seinem neuen Film The Lobster reist Lanthimos in eine komplette Phantasiewelt, die sich möglicherweise in einer nicht allzu fernen Zukunft befindet.
The Lobster stellt zwei imaginäre Gemeinschaften vor: Zunächst die Welt der Stadt, in der der Film beginnt: Ein puritanischer Wohlfahrtsstaat, in dem Tugendterror herrscht und nur Paarbeziehungen erlaubt sind. Parallel dazu existiert eine zweite radikalliberale Gemeinschaft aus Einzelnen, deren Mitglieder im Wald leben und einen radikalen Individualismus praktizieren. Beide Gruppen ähneln sich mehr, als ihnen lieb ist, in ihrem Totalitarismus mit menschlichem Antlitz und vor allem in den radikalen Gruppen-Regeln, die mit einem brutalen Strafregiment durchgesetzt werden.
Die Individualisten brechen allerdings ab und an auch in die Wohnungen der anderen Seite ein, um dort praktische Aufklärungsarbeit zu leisten und Lügen und Selbstbetrug aufzudecken – eine Art Wahrheitsterrorismus, der enthüllt, dass jede Wahrheit eben auch eine terroristische Seite hat.
In einem tollen Auftritt spielt Colin Farell die Hauptfigur David, die zunächst ins Wohlfühlgefängnis kommt, um dort für das soziale Leben in der Stadt gehirngewaschen und gleichgeschaltet zu werden. Irgendwann flieht er und lebt dann im Wald bei den Individualisten.
Doch an beiden Orten wird er nicht recht glücklich. Natürlich sind daran auch die Frauen schuld – kein Wunder, werden diese doch von Rachel Weisz und Léa Seydoux gespielt. Vor allem Seydoux ist großartig
als intelligente, stahlharte charismatische Revolutionärin, die einen zu allerlei Unsinn verführen könnte – eine Ulrike Meinhof der Zukunft.
Dies sind aber nur die zwei wichtigsten von einem ganz Dutzend exzellenter, origineller, sehr unterschiedlich selbstbewusster Frauenfiguren, die den Film dominieren. Und so ist The Lobster in jeder Hiinsicht ein atemberaubender, so fesselnder wie verwundernder Film über die Natur der Liebe und der Subjektivität im 21. Jahrhundert.