USA 2024 · 111 min. · FSK: ab 12 Regie: Mike Flanagan Drehbuch: Mike Flanagan Kamera: Eben Bolter Darsteller: Tom Hiddleston, Benjamin Pajak, Chiwetel Ejiofor, Karen Gillan, Mark Hamill u.a. |
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Mit jedem Tanzschritt vom Gestern und Morgen erzählen... | ||
(Foto: Tobis) |
»You will hardly know who I am or what I mean,
But I shall be good health to you nevertheless,
And filter and fibre your blood.«Failing to fetch me at first keep encouraged,
Missing me one place search another,
I stop somewhere waiting for you.– Walt Whitmans letzte drei Strophen seines 1346 Zeilen langen Gedichts Song of Myself
Dass Stephen King mehr als nur ein Bestsellerautor ist, der sogartige Horrorliteratur schreibt, wusste schon Stanley Kubrick. Kubricks The Shining (1980) zeigt auch heute überragend, wie man Literatur lesen und filmisch transformieren kann. Aber auch Frank Darabont mit seiner Shawshank Redemption (1994) und Stand by Me von Rob Reiner (1986) zeigen, wie ungewöhnlich vielschichtig Kings Prosa umsetzbar ist.
Auch Mike Flanagan nimmt sich wie Rob Reiner und Frank Darabont einer der Kurzromane von King an; allerdings aus seinem Spätwerk, der erst 2020 erschienenen Novellensammlung Blutige Nachrichten.
Es ist eine so lyrische wie analytische Geschichte, in der nicht nur der Lauf der Zeit umgedreht, sondern auch die Mathematik als die Quelle von existentieller Wahrheit in den Raum gestellt wird. Und es ist eine Geschichte, die nicht näher am Puls unserer Zeit spielen könnte. Denn Kings Kurzroman und Flanagans Adaption beginnen mit dem Untergang unserer Welt. Kalifornien löst sich vom Kontinent Amerika ab und versinkt wie einst Atlantis im Meer und nach und nach bricht die Zivilisation wie wir sie kennen zusammen, angefangen bei immer sporadischeren Ausfällen des Internets. Flanagan folgt hier wie auch in den anderen Kapiteln fast wortgetreu der Vorlage, findet aber so stille wie eindrückliche Bilder für eine Apokalypse, die aus der Sicht eines Lehrers eher einem Nachsinnen als einem Hilfeschrei gleicht. Zwar gibt es die typischen Kingschen „Verfremdungseffekte“, wenn das Konterfei eines Buchhalters im Untergang immer eindrücklicher an öffentlichen Orten und dann auch an Häuserwänden auftaucht. Aber das eher wie der Subtext des Schwanengesangs einer Zivilisation, der ein immer stärker ausufernder Individualismus zum Verhängnis geworden ist.
Mit dem nächsten Kapitel und einer Reise in die jüngste Vergangenheit steht nun jene Person im Zentrum, die im ersten Teil nur auf Video- und Plakatwänden aufgetaucht ist. Und was Flanagan hier aus Kings Vorlage macht, ist großes emotionales, und wunderbar analytisches Kino. Denn wie in bester Lyrik und subtilster Literatur wird über eine im Zentrum stehende Tanzszene soviel über die Tragik und Schönheit von Lebensentwürfen und Träumen erzählt, wie man es sich nicht einmal wünschen kann und einem Tom Hiddleston als Charles „Chuck“ Krantz, der den Tanz zu einer Transformation werden lässt, der mit jedem Tanzschritt ein weiteres Kapitel Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit erzählt.
Dabei braucht es dann eigentlich das erste Kapitel und Chucks Kindheit gar nicht mehr, so viel mehr macht Flanagan aus der literarischen Vorlage, die sich hier immer wieder auch anfühlt wie die Möglichkeiten von Leben (und Scheitern) in Shawshank Redemption. Im letzten Kapitel, dem Coming-of-Age Teil klingt dann die Sprache von Stand by Me an, in der die Möglichkeiten einer traumatisierten Kindheit aufgefächert werden, hier aber mit einem noch ganz anderen Versprechen kombiniert werden. Dem unheilvollen Versprechen eines alten Hauses, in dem der junge Chuck genauso zum Mittäter einer sich vage und düster artikulierten Zukunft wird wie Jack Nicholson Jack Torrance und dem unheilvollen »Haus« in Kubricks Shining. Doch geht es in the Shining in einer Spirale dem Abgrund zu, geht es bei Chuck in einer anders gearteten Spirale in die Höhe, wird dem Versprechen, das Schicksal zum Guten hin zu verändern, gehuldigt.
Der Zuschauer darf dabei die überreifen Früchte zarter Ambivalenz kosten, denn zwar wissen wir, dass diese Welt untergeht, aber gemeinhin nicht, dass in jedem Untergang auch große Poesie und Schönheit innewohnt, denn allein zu wissen, dass alles möglich ist, auch wenn es sich nie manifestiert, reicht aus, um getröstet zu sein.
Womit wir bei Walt Whitmans »Song of Myself« wären, aus dem in der Vorlage wie im Film zitiert wird und damit die schöne Traurigkeit ob der Erkenntnis, dass wir alle mehr sind, als wir zumeist glauben, noch einmal verstärkt wird und es fast so scheint, als sei dieser Film auf seine ganz und gar eigene zauberhafte Weise auch eine der wenigen überzeugenden Lyrikverfilmungen, die es gibt. Allerdings ohne sich dabei im Nichts oder Alles der Sprache zu verlieren, sondern sich immer wieder auch auf sein stets spannendes Narrativ zu verlassen, mit einem schauspielerischen Ensemble, das nicht nur im tänzerisch flirrenden Mittelteil, sondern auch am Anfang und Ende des hier erzählten Lebens überzeugt.
Im englischen Original erzählt übrigens Nick Offerman aus dem Off die verbindenden Passagen und liest natürlich auch Walt Whitman, was an sich den Film schon lohnt.