Die Linie

La ligne

Frankreich/B/CH 2022 · 103 min. · FSK: ab 12
Regie: Ursula Meier
Drehbuch: , ,
Kamera: Agnés Godard
Darsteller: Stéphanie Blanchoud, Elli Spagnolo, Valeria Bruni Tedeschi, Dali Benssalah, Benjamin Biolay u.a.
Aus der Position eines registrierenden Blicks...
(Foto: Piffl Medien)

Explosion einer Familie

Die Schweizerin Ursula Meier bearbeitet in ihrem Mutter-Tochter-Drama heftige Emotionen im Reinzustand. Wie in einer Versuchsanordnung wird hier der Zustand Familie an seine Grenzen geführt

Am Anfang steht eine regel­rechte Explosion: Schall­platten fliegen durchs Wohn­zimmer, eine Frau sucht Deckung hinter einem Klavier, eine andere, die, von zwei Männern kaum zu bändigen, immer wieder zu neuen Angriffen ansetzt, bis die atta­ckierte Frau mit dem Kopf auf der Tastatur aufschlägt.

Ein Streit, bei dem die 35-jährige Margaret (Stéphanie Blanchoud) auf ihre Mutter Christina (Valeria Bruni Tedeschi) losgeht, an physi­scher Heftig­keit nicht zu über­bieten. Die Polizei bringt die gewalt­tä­tige Tochter weg, ein Kran­ken­wagen holt die verletzte Mutter ab. Am Ende steht ein gericht­li­ches Kontakt­verbot: Margaret darf sich für drei Monate dem Haus ihrer Mutter nur bis auf hundert Meter nähern. Was bedeutet, dass sie wieder bei ihrem Ex-Freund Julien (Benjamin Biolay) Zuflucht suchen muss, der sich wegen ihrer unkon­trol­lierten Wutan­fälle von ihr getrennt hat.

Mit diesem Auftakt ist ein Ton gesetzt, der den ganzen Film über als latente Bedrohung über den Figuren liegt und jede Begegnung zwischen den Betei­ligten zu einer Grat­wan­de­rung der Emotionen macht. Wie schon in ihren früheren Filmen Home oder Winter­dieb bringt die Schwei­zerin Ursula Meier auch hier wieder das Thema der Fami­li­en­be­zie­hungen in eine prägnante Gestalt.

Vor allem für die zwölf­jäh­rige Marion (Elli Spagnolo), die jüngste der Töchter Chris­tinas, ist der drohende Fami­li­en­z­er­fall eine Kata­strophe. Der Stief­vater hat in Folge des Konflikts bereits das Weite gesucht. Dass sich Christina mit Hervé (Dali Benssalah) dann bald einen jüngeren Liebhaber ins Haus holt, kann sie auch nicht beruhigen.

Umso mehr ist sie darum bemüht, dass der Kontakt, den Margaret trotz des Annähe­rungs­ver­bots zu ihr und der Mutter noch sucht, nicht zu weiteren Eska­la­tionen führt: sie zieht um das Haus herum eine kreis­för­mige Linie mit einem Radius von hundert Metern. An dieser Grenze nun, in einer unwirt­li­chen winter­li­chen Umgebung mit dem Haus in Sicht­weite, gibt Margaret ihrer jüngeren Schwester Marion Gesangs­un­ter­richt. Der Konflikt wird so in der Schwebe gehalten, ohne dass er deswegen aufge­hoben wäre.

Diese Linie setzt zudem ein Zeichen, das dem Raum im Film eine besondere Geltung gibt: die symbo­li­sche Grenze zwischen dem Innenraum der Familie und der äußeren Zone, in die Margaret verbannt wurde, nimmt in ihr konkrete Gestalt an, sie wird zu einer topo­gra­phi­schen Markie­rung.

Eine geome­tri­sche Geste, mit der Ursula Meier auch eine erklä­rende psycho­lo­gi­sche Heran­ge­hens­weise erst mal zurück­stellt: zwar hält das Drehbuch (an ihm wirkte auch Stéphanie Blanchoud mit, die Darstel­lerin Margarets) solche Erklä­rungen für den Mutter-Tochter-Konflikt bereit, aber sie werden nicht ausbuch­sta­biert. Dass Christina für ihre aufge­ge­bene Pianis­tin­nen­kar­riere der Tochter, die sie sehr jung bekommen hat, insgeheim die Schuld zuweist, können die Zuschauer*innen zwischen den Einstel­lungen durchaus heraus­lesen, doch dem Film geht es nicht um eine thera­peu­ti­sche Hilfe­stel­lung für die Figuren. Eher zieht er sich auf die Position eines regis­trie­renden Blicks zurück, der eine Art Versuchs­an­ord­nung beob­achtet und erkundet.

Bei aller Heftig­keit und all der Gewal­tig­keit der Emotionen, die hier im Spiel sind, strahlt der Film eine Nüch­tern­heit in der Darstel­lung aus, die die Figuren um so eindring­li­cher wirken lässt. Insbe­son­dere die klaren, kühlen Cine­ma­scope-Bilder der Kame­ra­frau Agnès Godard lassen viel Raum um die Figuren, aber keine Weite, die wirklich aufatmen lässt.

Zu diesem Eindruck tragen auch die sorg­fältig gewählten Locations bei, an denen gedreht wurde: in Bouveret am östlichen Ende des Genfer Sees, in einer sehr aufgeräumt wirkenden Gegend an einem schnur­ge­raden Kanal, der mit der krummen Linie des Kreises inter­fe­riert.

Was dem Film darü­ber­hinaus eine immense Inten­sität verschafft, sind die darstel­le­ri­schen Leis­tungen. Allen voran Stéphanie Blanchoud als Margaret, die mit ihrer fast schon schroffen Körper­lich­keit der Rolle eine Glaub­wür­dig­keit bis in die schmerz­haften Verseh­rungen und Narben verleiht, aber dann auch eine anrüh­rende Verletz­lich­keit offenbart, gerade im (auch musi­ka­li­schen) Zusam­men­spiel mit Benjamin Biolay, der seine stoische Gelas­sen­heit hier noch souver­äner als gewohnt einzu­setzen weiß, gerade weil er hier als Musiker agieren darf.

Valeria Bruni Tedeschi gelingt es in ihrer unnach­ahm­li­chen Weise, der Rolle der um ihre Piano­kar­riere gebrachten Mutter Töne einer drama queen zu geben, die mit ihrem Leiden immer ein wenig den Auftritt sucht und eine imaginäre Bühne bespielt. Ihr kann man bei allem Ernst und bei aller Schwere fast schon komische Zwischen­töne abge­winnen.