NL/GB/Q/Palästina 2015 · 95 min. · FSK: ab 0 Regie: Hany Abu-Assad Drehbuch: Hany Abu-Assad, Sameh Zoabi Kamera: Ehab Assal Darsteller: Tawfeek Barhom, Ahmed Al Rokh, Hiba Attalah, Kais Attalah, Abdel Kareem Barakeh u.a. |
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Musik als Befreiung |
»Gesang lässt die Heuchelei im Herzen wachsen, so wie das Wasser Gras wachsen lässt.« (Abdullah ibn Mas'ud)
Was im Islam »haram«, also verboten ist, kann einen schon zum Verzweifeln bringen. Gleichzeitig muss man wissen, dass wie in jeder Religion auch im Islam die Exegese von Jahrhunderten am Werk ist, sich immer wieder neu orientiert und vor allem der ganz profanen Alltagstauglichkeit anpasst. Ein gutes Beispiel ist die Musik, die aus dem arabischen Alltag kaum wegzudenken ist, auch wenn sie immer wieder Angriffen aus den eigenen religiösen Reihen ausgesetzt ist. Doch die scheint es kaum zu scheren, stattdessen werden sogar dezidiert westliche Musikformate der arabischen Kultur einverleibt. Eins der gelungensten Synthesen dieser Art ist die arabische Ausgabe der Casting-Show »American Idol« bzw. »Deutschland sucht den Superstar«. »Arab Idol« ist mehr noch als ihre westlichen Ableger auch ein faszinierendes Beispiel dafür, wie länderübergreifend arabische Kultur durch das Bindeglied der arabischen Sprache funktioniert. Ausscheidungen finden nicht nur in einem Land, sondern in mehreren, etwa in Ägypten und dem Libanon statt.
Als einer der legendärsten Momente von »Arab Idol« gilt die 2013-Ausgabe der Show, als es einem 22-jährigen Flüchtling aus dem Gaza-Streifen gelang, trotz widrigster Umstände bis ins Finale vorzudringen und es auch noch zu gewinnen. Ein Initial-Moment auch für den palästinensischen Regisseur Hany Abu-Assad, der drei Wochen zuvor gerade für seinen Film OMAR den Kritikerpreis in Cannes gewonnen hatte, sich beim Live-Voting in Nazareth jedoch fast mehr über den Sieg Mohammed Assafs in Beirut freute als über seine Auszeichnung in Cannes.
Abu-Assad, der durch seinen Film Paradise Now (2005) über palästinensische Attentäter erstmals einen größeren Erfolg feiern konnte, schien mit seinen immer wieder explizit politischen Sozialdramen vielleicht nicht der offensichtlichste Kandidat für ein Biopic in der Glitzerwelt arabischer populärer Musik zu sein, Ein Lied für Nour zeigt jedoch, dass er nicht nur wegen seiner palästinensischen Abstammung genau der Richtige ist.
Abu-Assad gelingt es, im ersten Teil des Films Assafs Alltag im Gaza-Streifen ethnografisch präzise zu umreißen – gedreht wurde an Originalschauplätzen – und dabei auch noch mit den nötigsten politischen Implikationen zu versehen. Zudem versieht er auch hier schon die Geschichte mit der Portion an Melodram, die notwendig ist, dieser aberwitzigen, mit politischem Sprengstoff unterfütterte Aschenbrödel-Geschichte überhaupt zu folgen.
Diese gelungene Gratwanderung setzt Abu-Assad auch im zeitlich abgesetzten zweiten Teil, den eigentlichen Castingszenen fort. Zwar ist hier schon klar, was unweigerlich passieren muss, folgt das Leben bzw. der Plot einer nur allzu bekannten narrativen Struktur, doch übernimmt an dieser Stelle die Musik die Handlung, die nicht nur perfekt in Szene gesetzt wird, sondern mit den besonderen Zutaten der arabischen Musik versehen ist. Wer als westlicher Betrachter – und vor allem Hörer – dem arabischen Tonsystem mit seinen Vierteltonschritten bislang nicht viel abgewinnen konnte, der mit der arabischen Heterophonie und die das Tonsystem stark prägende, sehr andere Verwendung der Instrumente und mit der überragenden Bedeutung des Gesangs im Arabischen bislang Probleme hatte, dürfte nach Abu-Assads Film eines besseren belehrt werden.
Denn was Abu-Assad schon im Gaza-Teil von Ein Lied für Nour gelungen ist – den Zuschauer über das Melodram für ein schwieriges Thema, nämlich das politische zu sensibilisieren, gelingt ihm auch im zweiten, dem musikalischen Teil. Wer Mohammed Assaf, von einem großartigen Tawfeek Barhom verkörpert, hier mit und gegen seine Konkurrenten singen hört, lernt zumindest für einen Moment eine der schönsten Seiten des Islam und der arabischen Welt verstehen – seine Musik und die Begeisterung für Musik. Und damit einen libertinären, konsum- und lustorientierten Alltag, der im Zuge unserer politisch-religiösen Dämonisierung des arabischen Kulturraums kaum mehr wahrgenommen wird.