Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist

Deutschland 2020 · 106 min. · FSK: ab 0
Regie: Sabine Herpich
Drehbuch:
Kamera: Sabine Herpich
Schnitt: Sabine Herpich
Filmszene »Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist«
Die Henne und das schöne Bild
(Foto: Peripher)

Der Baum-Dino und die Hahn-Mona Lisa

Sabine Herpichs einfühlsamer Dokumentarfilm Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist zeigt, dass auch Künstler mit einer Behinderung echte Künstler sind

Wir sehen einen Mann von hinten, der tief gebeugt an einem Tisch sitzt. Langsam bewegt sich sein Kopf hin und her. Eine Nahauf­nahme zeigt, dass er an einer großen Zeichnung arbeitet. Sorg­fältig setzt der Künstler mit einem Buntstift einzelne zusätz­liche Elemente in ein komplexes Lini­en­geflecht hinein. Er wirkt äußerst konzen­triert. Später erfahren wir, dass es sich bei dem Künstler um den bereits über acht­zig­jäh­rigen Adolf Beutler handelt. Er ist der Star der Werkstatt Mosaik für Menschen mit Behin­de­rung in Berlin-Spandau. Beutlers Zeich­nungen kosten über 800 Euro. Seine Werke werden euro­pa­weit ausge­stellt. Einen großen Teil seines Lebens hat Beutler in einer Psych­ia­trie verbracht.

Es dauert ziemlich lange, bis wir nach und nach diese Infor­ma­tionen erhalten. In ihrem Doku­men­tar­film Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist konzen­triert sich die Filme­ma­cherin Sabine Herpich ganz auf die Beob­ach­tung der verschie­denen Künstler in der Werkstatt Mosaik bei ihrem Schaf­fens­pro­zess und bei der Inter­ak­tion mit der Werk­statt­lei­terin Nina Pfan­nen­stiel. Herpich führt selbst die Kamera. In langen stati­schen Einstel­lungen sehen wir, wie die verschie­denen künst­le­ri­schen Arbeiten Form anzu­nehmen beginnen. Da werden Bunt­stifte gespitzt und mal in höchster Konzen­tra­tion und mal ziemlich unwirsch über das Blatt geführt. Ein Künstler arbeitet im Stehen und benützt einen Holzstab, um seine zeich­nende Hand von dem Blatt auf Abstand zu halten. Ein anderer zeichnet abwech­selnd mit einem dünnen Stift ganz feine Linien und tüpfelt mit einem kleinen Pinsel einzelne Flecke aufs Papier.

Nur verein­zelt arbeitet Herpich mit einigen langsamen Kame­ra­schwenks – beispiels­weise bei der Darstel­lung einer Bespre­chungs­runde am Ende eines Arbeits­tags. Bei dieser befragt die Werk­statt­lei­terin Nina Pfan­nen­stiel die verschie­denen Künstler danach, was sie an diesem Tag geschafft haben. Denn wie jede Werkstatt für Menschen mit Behin­de­rung muss auch die Künst­ler­werk­statt Mosaik Werke produ­zieren, die verkauft werden können. »Das klappt mal mehr und mal weniger gut«, meint Pfan­nen­stiel. Aber es ist den einzelnen Künstlern anzu­merken, dass sie alle mit einem großen Ernst bei der Arbeit sind. Schon nach kurzer Zeit wird klar, dass ihr Malen und Werkeln keine bloße Beschäf­ti­gungs­the­rapie darstellt, sondern eine richtige Erwerbs­ar­beit ist.

Die dabei entste­henden Werke sind allesamt unge­wöhn­lich, aber zugleich von nicht zu leug­nender künst­le­ri­scher Qualität. Adolf Beutler produ­ziert große abstrakte Zeich­nungen, die er zum Teil um einzelne Holz­ob­jekte berei­chert in die dritte Dimension erhebt. Die Künst­lerin Suzy van Zehlen­dorf hat eine Serie mit promi­nenten Personen und bekannten Werken aus der Kunst­ge­schichte gemalt. Wir sehen Dita Von Teese in einem Sektglas baden, die Mona Lisa und »den Schrei« von Munch. Alle diese ikono­gra­fi­schen Bilder sind klar erkennbar. Doch zugleich sind sie stark verfremdet, weil alle darge­stellten Personen durch Hähne ersetzt sind. Wiederum voll­kommen anders sind die Werke von Gabriele Beer. Sie schafft stark farbige Bilder, in denen Dino­sau­rier oder der Tod zu sehen sind. Ein Bild mit einem in einem Baum hängenden Dino­sau­rier nennt sie schlicht »Baum-Dino«.

Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist zeigt, dass die Künstler mit Behin­de­rung in der Werkstatt Mosaik zwar eigen­wil­lige Werke produ­zieren, sich deren Wert jedoch keines­wegs auf ihren Skur­ri­li­täts­faktor beschränkt. Statt­dessen wird deutlich, dass dies ernst­zu­neh­mende Künstler sind. Dies unter­streicht auch die Tatsache, dass zwei Gale­risten in die Werkstatt kommen, weil sie die Werke der Künstler in ihrem Kunst­verein zeigen wollen. Es ist das erste Mal, dass dort Werke von Menschen mit einer Behin­de­rung ausge­stellt werden. Später sehen wir, wie Nina Pfan­nen­stiel erst den Katalog zur Ausstel­lung in der Werkstatt herum­reicht, und später, wie alle Künstler zur Vernis­sage gehen. Sabine Herpich begleitet dies wie die meisten Geschehen im Film kommen­tarlos. Nur bei der Beob­ach­tung der Künstler bei der Arbeit macht sie einzelne Kommen­tare und stellt Fragen aus dem Off. So kann sich der Zuschauer in diesem Film selbst ein Bild von der Werkstatt Mosaik und den dort arbei­tenden Künstlern machen.

Dass die Betreuung der Künstler in einer Werkstatt für Menschen mit Behin­de­rung trotzdem eine umfas­sen­dere als in einer gewöhn­li­chen Werkstatt ist, wird jedoch spätes­tens dann deutlich, als Adolf Beutler an einer Stelle weint. Sanft legt Nina Pfan­nen­stiel ihre Hand in die seine und versucht den traurigen Künstler zu trösten. Auch hier filmt die Kamera von Sabine Herpich ganz ruhig das Geschehen. Am Ende des Films sehen wir erneut Beutler bei der Arbeit. An dieser Stelle bricht Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist unver­hofft ab. Dieser Doku­men­tar­film ist denkbar unprä­ten­tiös. Zugleich gewährt er jedoch wirklich tief­ge­hende Einblicke.