USA 2020 · 137 min. · FSK: ab 12 Regie: Judd Apatow Drehbuch: Pete Davidson, Judd Apatow, Dave Sirus Kamera: Robert Elswit Darsteller: Pete Davidson, Marisa Tomei, Maude Apatow, Bel Powley, Pamela Adlon u.a. |
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Die so verzweifelte wie tröstliche Sehnsucht nach den Wurzeln unseres Daseins | ||
(Foto: Universal) |
»Catch a cannon ball now to take me down the line
My bag is sinkin low and I do believe it’s time
To get back to Miss Fanny, you know she’s the only one
Who sent me here with her regards for everyone«
– J.R. Robertson/The Band, The Weight
Zumindest ein Gutes bringt Corona für die Kinos: das Fehlen der Blockbuster spült plötzlich eine Welle von »kleinen« Filmen in die Kinos, die es sonst schwergehabt hätten, überhaupt einen Start zu bekommen, und länger als eine Woche wohl kaum überlebt hätten.
Einer dieser Filme dürfte auch Judd Apatows The King of Staten Island sein, der schon im Vorfeld mehr Aufmerksamkeit bekommen hat als jeder Apatow-Film der letzten Jahre. Das mit der Aufmerksamkeit lag natürlich auch immer daran, dass Apatow als ehemaliger Stand-Up-Comedian und innovativer Motor der amerikanischen Komödie es dem Mainstream niemals leichtgemacht hat. Gut, er hat großartige Serien wie Freeks & Geeks (1999-2000) und Love (2016-2018) mitgestaltet, er hat Instant-Klassiker wie The 40-Year-Old Virgin und Knocked Up geschaffen, hat sich dem Wesen der Komödie und seinen Protagonisten in klugen Porträts wie Funny People (mit Adam Sandler, 2009) oder Trainwreck (mit Amy Schumer, 2015) angenähert, und er hat als Mentor junger Talente die Karrieren von Jason Segel, Evan Goldberg, Jake Kasdan, Greg Mottola, Steve Carell, Seth Rogen, Leslie Mann, Paul Rudd und Jonah Hill gefördert. Aber Apatow hat sich nie – ganz im Sinne der klassischen Stand-Up-Comedy – vom Mainstream vereinnahmen lassen und wurde deshalb spätestens seit 2007 und den Anfängen der Cancel-Culture wegen seiner zweideutigen, politisch alles andere als korrekten LGBTQ-Kommentare immer wieder als sexistisch, homophob oder transphob disqualifiziert.
Wie wenig diese Anschuldigungen mit Apatow und seiner Arbeit im Grunde zu tun haben, zeigt auch sein neuester Film. Wie alle Filme Apatow funktioniert auch The King of Staten Island wie ein Brennglas auf den amerikanischen Alltag und offenbart damit in fast schon psychonalaytischer Brillanz all die Verwerfungen, die die Normalitätsdogmen unserer westlichen Gesellschaften so mit sich bringen. Noch stärker als in den Filmen mit Adam Sandler und Amy Schuman bezieht Apatow dieses Mal allerdings ein »wirkliches« Leben in seinen Film mit ein. Der junge Comedian Pete Davidson, der regelmäßig in »Saturday Night Live« auftritt, hat mit Apatow nicht nur das Drehbuch geschrieben, sondern in diesem Drehbuch sein Coming-of-Age mit einfließen lassen. Vor allem die folgenreiche Traumatisierung durch den Tod des Vaters, der als Feuerwehrmann bei einem 9/11-Einsatz starb, wird in Apatows Film – allerdings ohne den 9/11-Bezug – zu einer verzweifelten Suche des inzwischen 24-jährigen Pete nach seinen Wurzeln und seiner Bestimmung. Apatow zeigt den jungen Scott (Pete Davidson), der immer noch bei seiner Mutter (Marisa Tomei) wohnt und mit seinen Kumpels gesellschaftlich so abgehängt ist, wie der Ort selbst, in dem sie leben, wie Staten Island, das New York zwar immer vor Augen hat, ohne aber New York zu sein, und fast ebenso händeringend eine Identität sucht wie die Protagonisten in Apatows Film.
Das Umfeld, das Apatow in The King of Staten Island schildert, ist das der unteren amerikanischen Mittelklasse, die es nicht einfach hat, die stets den Absturz in tiefere Gefilde vor Augen hat, der jedoch anders als etwa in dem kürzlich ebenfalls mit einem überraschenden Kinostart beschenkten und stark unterschätzten Semper Fi – nie ausbuchstabiert wird. Stattdessen folgen wir Scott und seinem jungen Leben, seiner Suche an die Grenzen eines bürgerlichen Lebens, die letztlich erst durch die Spurensuche in der Vergangenheit Früchte trägt, als er ein sporadisches Internship als Feuerwehrmann beginnt, und zwar in der Einheit, der auch sein Vater angehört hat.
Bieten Apatow und Davidson bis zu diesem Punkt durch die umwerfenden schauspielerischen Leistungen und durch die so dichte wie spektakuläre Kamera von Robert Elswit einen fast schon hyperrealistischen Zugriff auf das Leben von Scott, verdichtet sich dieser Ansatz noch einmal durch die Transformation, der Scott nun unterworfen wird. Und mehr als das. Denn gerade in der vielleicht wichtigsten Szene von The King of Staten Island zeigt Apatow, warum er einer der wichtigsten Filmemacher der USA ist, der über Tragikomik im Kleinen die Welt im Großen versteht und erklärt. Es ist eine simple Kneipenszene. Die gestandenen Feuerwehrmänner trinken ihr Abendbier und Scott kommt dazu, ein wenig linkisch, ein wenig hilflos, bereit für den nächsten Absturz. Doch die Männer ziehen ihn in ihren Kreis und erzählen das erste Mal von Scotts Vater, wie er wirklich war. Zwar ein Held, aber auch ein Loser, so wie jede Medaille zwei Seiten hat. Für Scott bricht eine Welt zusammen, gleichzeitig ist der Zusammenbruch mehr als nur eine therapeutische Chance, denn zum ersten Mal muss er sich nicht mehr für sich selbst schämen. War Elswits Kamera bis dahin gnadenlos in ihrem seziererischen, realistischen Impetus, wird die Kamerafahrt um diesen Kneipentisch, und immer wieder zu dem großartigen, von Steve Buscemi verkörperten »Papa«, plötzlich liebevoll, scheint die Protagonisten fast zu streicheln.
Doch Apatow will noch mehr aussagen, als dass gnadenlose Offenheit im Privaten letztendlich die Grundvoraussetzung für ein gesundes und bitte auch noch so normales Leben ist. Denn Apatow unterlegt die Szene mit einem der großartigsten, tief- und abgründigsten Songs der kanadisch-US-amerikanischen Root-Rock-Band »The Band«. Wie kaum ein anderer ihrer Songs formuliert das von Apatow eingespielte »The Weight« die so verzweifelte wie tröstliche Sehnsucht nach den Wurzeln unseres Daseins, einen Weckruf, der 1968 auch gesamtgesellschaftlich gemeint war. Und so öffnet sich mit dieser Szene plötzlich ganz Amerika vor uns, wird Staten Island mit den Helden von Apatows Film zu einer Blaupause für das, was einmal Amerika war, und nun nicht mehr ist, aber durchaus wieder sein kann. Vorausgesetzt, jeder bringt genug Mut mit, diesen schmerzvollen, selbstherapeutischen Prozess auch zu initialisieren. Apatow macht Mut dazu und fragt nicht nach Unmöglichem, versöhnt mit dem Leben und dem Leiden zugleich und hat damit vielleicht einen der schönsten Filme dieses schwermütigen 2020er-Sommers geschaffen.