Kingdom – Die Zeit, die zählt

Le royaume

Frankreich 2024 · 111 min. · FSK: ab 16
Regie: Julien Colonna
Drehbuch: ,
Kamera: Antoine Cormier
Darsteller: Ghjuvanna Benedetti, Saveriu Santucci, Anthony Morganti, Andrea Cossu, Frederic Poggi u.a.
Die Zeit, die zählt
Aber Rache muss und darf sein
(Foto: Progress Film)

Das ganze Leben in einem Tanz

Mädchen in der Männerwelt: »The Kingdom«, Julien Colonnas souveränes Debüt, ist großartiges Gangsterkino und ungeachtet seines schlechten deutschen Titels »Die Zeit, die zählt« einer der besten Filme des Jahres

»We breathe fear. We eat fear. That’s what keeps us alive.«
– »Le Royaume«

Eine Männer­welt, irgendwo im Süden. Wild­schweine werden gejagt; Körper, Schweiß, Blut – und mitten­drin ein junges Mädchen. Sie schneidet ein erlegtes Wild­schwein auf, nimmt die Gedärme raus, Blut spritzt ins Gesicht und man sieht, dass dies alles für sie auch eine Mutprobe ist, ein Ritual des Erwach­sen­wer­dens, das sie Über­win­dung kostet. Der Lohn ist Schul­ter­klopfen.

Es gibt hier von Anfang an, von dieser ersten Szene an, eine sehr gute, präzise Regie, die uns zwischen den Bildern, ohne Worte, aber auch ohne direkte platte Bilder sofort mitteilt, dass dieses Mädchen eine Prin­zessin ist, dass es irgendwo einen König gibt, ihren Vater; man fragt sich auch gleich, welchen Prinz­ge­mahl sie wohl erwählen wird, erst recht, als sie abends in der Disco knutscht. Aber sie hat auch da ihre Prin­zi­pien.

Die Musik klingt wie in einem Thriller oder einem Horror­film und sie macht gleich klar, dass Le Royaume, der inter­na­tional The Kingdom heißt (und auf deutsch irrwit­zi­ger­weise und voll­kit­schig Die Zeit, die zählt betitet wurde, sodass ich fast zu spät erkannt habe, dass es sich um diesen Film handelt), am Ende ernstes Genre-Kino ist und nichts irgendwie dazwi­schen.

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Kurz darauf wird sie von jemandem abgeholt. Sie wusste vorher von nichts, aber sie kennt das alles offen­sicht­lich schon: »How long will I stay here?«

Ein Haus irgendwo am Meer. Wieder eine Männer­welt; zugleich sieht man, dass sie sich sicher fühlt, dass diese Männer ihr keine Gefahr bedeuten, und bald ist klar: Einer davon ist ihr Vater.
Allmäh­lich kommen weitere Infor­ma­tionen: Korsika, ein Attentat auf einen Politiker, ein Freund des Vaters. Die korsi­schen Sepe­ra­tisten stecken nicht dahinter.

Tochter und Vater gehen fischen auf dem Meer. Sie reden, über die Schule, die Tante, bei der sie lebt. Sie ist 16 und heißt Lesia. Der Vater ist autoritär, gibt ihr Lektionen, ist es gewohnt, dass man ihm gehorcht. Später essen sie den Fisch.
Aber was soll dieses ganze Geheim­nis­getue?

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Es dauert noch etwas, erst dann ist es klar: Seit über 30 Jahren ist der Vater unter­ge­taucht, und wird von der Polizei gesucht. Denn er ist der Boss eines Mafia­clans. Der Ermordete war ein Politiker, der für ihn Dienste erledigt hat.

So geht es eine Weile weiter: Man sieht die Männer, wie sie mal wie Soldaten im Krieg Schutz­westen anlegen, ihre Waffen einste­cken, man glaubt auch gele­gent­lich zu sehen, dass sie beob­achtet werden.
Und dann wieder beim Kochen und Essen: Fisch­suppe mit Fenchel und Knoblauch. Normaler Alltag.

Aufgaben werden verteilt: »Make sure that you will be seen.« Der Vater sagt: »Das ist der Anfang von etwas Größerem.« Dann ist Lesias Paten­onkel tot. »We must stay strong«, sagt der Vater, aber allmäh­lich schleicht sich etwas ein in dieses vertraute, erprobte Leben: Das Wissen, dass es damit zu Ende geht.

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Lesia will verstehen: Was wollen die Anderen? Worum geht es? Kann man mit ihnen reden? »Nein«, sagt der Vater. Man disku­tiert nicht mit ihnen. Sie wollen töten. Es geht um Geld und es geht um Macht.
Sie müssen das Haus verlassen, wechseln dann immer schneller die Orte. Sie schlagen zurück, aber auch die Polizei ist ihnen auf den Fersen.

Es wird immer klarer, dass diese Tage, die als kurzer Besuch beim Vater geplant waren, die letzten Tage sind, die sie überhaupt gemeinsam verbringen werden.
Auf einem Camping­platz, getarnt als Touristen, sprechen sie mitein­ander: Die Tochter sagt ihm: »Du hast Angst.« Seine Antwort: »Im Leben, das wir leben, hat man immer Angst. Wir atmen Angst, wir essen Angst. Das hält uns am Leben.«

Der Vater erzählt von der toten Mutter, von den besten Jahren seines Lebens; er sagt, er hätte nie gedacht, dass er so alt werden würde. Er sei weder stolz, noch schäme er sich für das, was er getan hat. »Nun zahle ich dafür. Und du zahlst auch den Preis. Das tut mir weh. Ich hoffe, eines Tages vergibst du mir.«

Dann tanzen Vater und Tochter mitein­ander. Das ganze Leben verdichtet sich auf diesen einen Moment. Das ganze Leben, das man nicht zusammen verbringen wird, das ist jetzt und hier in dieser Inten­sität ganz da.

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Total toll ist, wie sich in diesem Film die perma­nente Angst und Wach­sam­keit der Figuren überträgt. Auch der Zuschauer erwartet immerzu das Schlimmste.

Immer wieder führt einen der Film auch an der Nase herum: Einmal geht der Vater über die Straße und wird auf eine Weise gefilmt, dass man glaubt, ganz sicher zu sein, dass er jetzt gleich erschossen wird. Aber tatsäch­lich sind die Männer, die aus dem Auto aussteigen, seine Mitar­beiter und mit ihnen zusammen dringt er in ein Etablis­se­ment ein, wo er selbst jemanden tötet.

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Irgend­wann ist es dann doch vorbei. Doch dann kommt noch eine weitere Volte: Denn Lesia, die dabei ist, als der Vater erschossen wird, rächt ihn, denn sie hat den Verräter erkannt.
Der Freund des Vaters, der ihr dabei hilft, sagt ihr danach: »Wir kümmern uns um die Anderen. Von nun an möchte ich dich nie wieder mit einer Waffe sehen.«
Aber Rache muss und darf sein. Damit sie Frieden hat.

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Le Royaume ist das Debüt von Julien Colonna, der hier groß­ar­tiges Gangs­ter­kino und Männer­welten, Mate­ria­lität und Haptik wie bei Michael Mann mit Motiven des Coming-of-Age und der Desil­lu­sio­nie­rung verbindet.
Es ist hohe Regie-Kunst: Colonna schafft es, dass das Publikum Figuren versteht oder sogar liebt, deren Verhalten die meisten von uns nicht gutheißen werden. Nicht verstehen wollen und können.
Der Film schafft es aber, dass wir ihre Moral nach­voll­ziehen. Es gibt nichts Besseres, als wenn Kino genau das leistet, und wir selbst im Film für ein paar Stunden unsere Grenzen über­schreiten.

Das sind die Filme, für die man wirklich ins Kino geht.

PS: Einen solchen Film in seiner Eleganz, in der Souver­ä­nität seiner Machart, könnte in Deutsch­land niemand so insze­nieren. Außer natürlich Dominik Graf und Jan Bonny. Sorry to say