Die jüngste Tochter

La petite dernière

Frankreich/D 2025 · 113 min. · FSK: ab 12
Regie: Hafsia Herzi
Drehbuch:
Kamera: Jérémie Attard
Darsteller: Nadia Melliti, Park Ji-Min, Louis Memmi, Melissa Guers, Anouar Kardellas u.a.
Die jüngste Tochter
Manifest der lesbischen Liebe
(Foto: Alamode)

Befreiende Selbstfindung

Eine lesbische Muslima in Paris… Schauspielerin Hafsia Herzi inszeniert die inneren und äußeren Konflikte eines komplizierten Coming-Outs

Die 17-jährige Fatima (Nadia Melliti) ist die jüngste von drei Töchtern einer Familie mit alge­ri­schen Wurzeln, die in einem Pariser Vorort wohnt. Sie ist eine über­zeugte Muslima, in der ersten Szene sieht man sie bei der rituellen Waschung vor dem Morgen­gebet. Sie fühlt sich geborgen in ihrer gläubigen, aber liberalen Familie. Im Gymnasium hat Fatima gute Noten, sie joggt und spielt gerne Fußball, aller­dings nur allein. Sie ist eher schweigsam und eine gute Beob­ach­terin.

Doch irgend­etwas stimmt nicht in ihrem ruhigen Gesichts­aus­druck. Ihr selbst­si­cheres Auftreten, wenn sie mit einer prah­le­ri­schen Jungs-Clique ihrer Klasse abhängt, wirkt einfach zu cool. Wie innerlich zerrissen Fatima ist, wird mit einem Schlag sichtbar, als sie in der Schule gleichsam explo­diert: Der offen­sicht­lich homo­se­xu­elle Mitschüler Rayan (Mahamadou Sacko) wird von einem der Ange­ber­jungs provo­ziert und keift zurück, dass Fatima selbst lesbisch sei. Die rastet aus, zerbricht seine Brille, stößt ihn zu Boden und tritt auf ihn. Nur mit größter Mühe können ihre Schul­ka­me­raden sie wegzerren und beruhigen.

Der Mitschüler hat ins Schwarze getroffen. Fatima entwi­ckelt immer mehr Gefühle für Frauen, ist aber nicht bereit, sich der Familie und den Freunden zu offen­baren. Ihre Homo­se­xua­lität stürzt sie auch in eine religiöse Krise – sie glaubt zwar an Allah, kann aber nicht mehr beten. Und dann hat Fatima noch ein weiteres Geheimnis: Sie hat einen heim­li­chen festen Freund, der sie heiraten will und schon von Kindern spricht. Fatima zögert etwas, gibt ihm aber den Laufpass. Statt­dessen lernt sie über eine Dating-App attrak­tive Frauen kennen und erkundet die queere Szene. Kaum hat sie das Abitur in der Tasche, begegnet Fatima in einem Kurs für Asth­ma­tiker der südko­rea­ni­schen Kran­ken­schwester Ji-Na (Ji-Min Park), in die sie sich verliebt.

Coming-of-Age-Filme gibt es wie Sand am Meer, und Coming-Out-Filme haben auch keinen Selten­heits­wert mehr. Unge­wöhn­lich ist dagegen die Kombi­na­tion von beiden, insbe­son­dere, wenn sie ein lesbi­sches Coming-Out einer Muslima erzählt. Insze­niert hat den Film die Schau­spie­lerin, Regis­seurin und Dreh­buch­au­torin Hafsia Herzi, die dafür den auto­fik­tio­nalen Debü­t­roman von Fatima Daas recht frei adaptiert hat. Daas und Herzi haben ihre maghre­bi­ni­sche Herkunft gemeinsam: Daas wurde 1995 als Tochter alge­ri­scher Einwan­derer in Saint-Germain-en-Laye geboren, Herzi kam 1987 im südfran­zö­si­schen Manosque zur Welt und hat tune­si­sche und alge­ri­sche Wurzeln.

In ihrem dritten Kinofilm nach Verdienst einer Liebe und Eine gute Mutter wählt die Regis­seurin eine außer­ge­wöhn­liche Heran­ge­hens­weise, um das sexuelle Erwach­sen­werden einer jungen Frau zu schildern. Sie verzichtet auf drama­ti­sche Zuspit­zungen durch Konflikte mit Familie und Freunden, Religion und Staat, die uns sonst bei den meisten Kinos­tü­cken über jugend­liche Homo­se­xu­elle begegnen, und beschränkt sich weit­ge­hend auf die inneren Stol­per­steine der Prot­ago­nistin: Fatima kann oder will sich zunächst nicht zuge­stehen, dass sie lesbisch ist. Sie leidet still vor sich hin. »Sie fühlt sich schuldig gegenüber ihrer Religion, ihrer Familie und sich selbst«, sagt die Regis­seurin in einem Statement zum Film. Und es dauert eine Weile, bis sie sich selbst mehr Hand­lungs­frei­heit zugesteht: Sie beginnt ein Philo­so­phie­stu­dium, gewinnt einen neuen Freun­des­kreis und lässt sich auf lesbische Expe­ri­mente ein. Doch wie lange kann sie das Doppel­leben durch­halten?

Herzi insze­niert diese Suche nach einem Platz im Leben, der eine lesbische Exis­tenz­form mit dem musli­mi­schen Glauben versöhnt, in ruhigen Bild­folgen und gemäch­li­chem Tempo. Sie gliedert den Film in fünf Kapitel, die sich vom Frühjahr bis zum Frühjahr des Folge­jahres erstre­cken. Als Vorbilder für die realis­ti­sche Darstel­lungs­weise para­dig­ma­ti­scher Konflikte nennt Herzi Andrea Arnold, Ken Loach, die Brüder Dardenne und Abdel­latif Kechiche, unter dem sie selbst als Schau­spie­lerin debü­tierte.

Die Rollen hat die Regis­seurin zum großen Teil mit Laien besetzt. Ihren ersten Film­auf­tritt absol­viert auch Nadia Melliti als Fatima, die 2002 als Tochter alge­ri­scher Eltern in einem Vorort von Paris geboren wurde. Die Sport­stu­dentin, die auf dem Sprung zu einer Karriere als Profi­fuß­bal­lerin war, wurde von einer Casterin auf der Straße entdeckt. Mit ihrem ebenso wort­kargen wie kraft­vollen Spiel meistert sie auch heikle Sexszenen, die hier sehr behutsam insze­niert sind. Welches Talent in dieser Entde­ckung steckt, zeigt sich vor allem in der stärksten Sequenz, als die weise Mutter (wunderbar gelassen: Amina Ben Mohamed) ihre jüngste Tochter am Küchen­tisch fragt, was mit ihr los sei, und diese unter Tränen mit sich ringt: Kann sie sich ihr endlich anver­trauen? Bei der Urauf­füh­rung des Films auf dem Festival in Cannes sorgte Melliti 2025 für Furore und gewann den Preis für die beste Darstel­lerin. Zugleich errang Die jüngste Tochter die Queer Palm.

So stil­si­cher Herzi die Story in Szene gesetzt hat, so packend Melitti die verun­si­cherte Heldin auch spielt, einige narra­tiven Uneben­heiten lassen sich nicht übersehen. So hat der Gewalt­aus­bruch in der Schule für Fatima erstaun­li­cher­weise keine Konse­quenzen. Erstaun­lich ist auch, dass in Zeiten der Allge­gen­wart von Smart­phone-Kameras und Messenger-Diensten im Lebens­um­feld junger Menschen heimliche lesbische Frei­zeit­ak­ti­vi­täten unent­deckt bleiben sollen. Wenig plausibel ist ferner, dass Fatima wegen ihrer sexuellen Orien­tie­rung keine Repres­sionen erfährt. Lediglich der Imam, bei dem sie in ihrer seeli­schen Not Rat sucht, weist sie unmiss­ver­s­tänd­lich darauf hin, dass Homo­se­xua­lität im Islam verboten ist. Trotz solcher Schwächen ist Die jüngste Tochter ein eindring­li­cher Film über den Prozess einer weib­li­chen Selbst­fin­dung.