Ein Junge namens Titli

Titli

Indien 2014 · 128 min. · FSK: ab 16
Regie: Kanu Behl
Drehbuch: ,
Kamera: Siddwarth Diwan
Darsteller: Shashank Arora, Lalit Behl, Shivani Raghuvanshi, Ranvir Shorey, Amit Sial u.a.
Wenigstens Moped fahren

Der Schmetterling, der ein Junge war

Ein Junge namens Titli ist der erste Spielfilm des indischen Regis­seurs Kanu Behls. Der Film beginnt als ein schmuck­loses Arthouse-Drama, das auf fast doku­men­ta­ri­sche Weise in die vor Amora­lität stinkende Welt des Boden­satzes der indischen Gesell­schaft eintaucht. Später verwan­delt sich der Film allmäh­lich in einen poeti­schen Neo-Noir. Zugleich mutiert der anfangs unschuldig wirkende Titli zusehends zum kalt­schnäu­zigen Kotz­bro­cken. Letzteres ist nicht unpro­ble­ma­tisch, da es die Iden­ti­fi­ka­tion des Zuschauers mit dem Prot­ago­nisten des Film sehr erschwert. Diese Radi­ka­lität des Filme­ma­chers beim Erzählen seiner Geschichte ist aufgrund ihrer Konse­quenz bewun­derns­wert.

»Titli« bedeutet »Schmet­ter­ling«. Seine Mutter hatte ihren Sohn diesen Namen gegeben, da sie sich eigent­lich eine Tochter gewünscht hatte. Inzwi­schen ist Titli (Shashank Arora) fast erwachsen und hat keine Lust mehr bei den Über­fällen seiner beiden älteren Brüder mitwirken zu müssen. Nachdem er mit Neelu (Shivani Raghu­vanshi) zwangs­ver­hei­ratet wurde, bildet er mit seiner unfrei­wil­ligen Ehefrau ein Zweck­bündnis, das beiden den Ausweg aus der Hölle von Titlis krimi­neller Familie ermög­li­chen soll.

Shashank Arora gelingt es, durch minimale mimische Regungen seiner Figur Leben einzu­hau­chen und Titlis ganze innere Zerris­sen­heit und Ambi­va­lenz spürbar zu machen. Er ist weit davon entfernt, ein typischer Sympa­thie­träger zu sein. Er ist aber ebenso wenig ein klarer Antiheld. Titli ist ein sehr kompli­zerter Charakter und damit viel schwie­riger, aber auch inter­es­santer als die meisten Film­prot­ago­nisten. Dies ist einer der Gründe, weshalb Ein Junge namens Titli zunächst spröde wirkt, sich zunehmend jedoch als erfri­schend anders entpuppt.

Ein Junge namens Titli fährt eine beacht­liche Parade an Anti­pa­then auf, bei der sich selbst zunächst halbwegs integer wirkende Personen nach und nach als durch­trie­bene Schwei­ne­hunde entpuppen. Das trübe Teiben wird in ausge­wa­schenen tristen Bildern darge­boten. Doch nach und nach entfaltet der Film einen unter­schwel­ligen Sog, auch wenn dies nur mit der Geschwin­dig­keit eines knat­ternden Mopeds geschieht. Aber wenn die Bilder auf einmal eine inte­ren­si­vere Färbung einehmen und ein erst leiser Beat hörbar mächtiger wird, dann verwan­delt sich das zuvor spröde Drama in ein modernes Märchen.

Ehe man sich versieht, verströmt der Film eine ganz eigene Gossen­poesie und eine zynisch-roman­ti­sche Kinomagie. Aus dem unsen­ti­men­talen Dreck von Dehlis Slums schält sich ein heißherzig pochender Neo-Noir heraus, in dem die Raupe, die ein Schmet­ter­ling werden sollte, sich in ein Ungeheuer verwan­delt und die unschul­dige Neelu die einzige ist, die diesem unkon­trol­liert wuche­rendem Krebs­ge­schwür von einer Stadt noch an das Gute im Menschen glaubt. – Doch kann es in diesem mora­li­schen Morast überhaupt noch ernsthaft Hoffnung geben?