Jeder schreibt für sich allein

Deutschland 2023 · 169 min. · FSK: ab 12
Regie: Dominik Graf
Drehbuch: ,
Kamera: Markus Schindler
Schnitt: Nils Nebe
Die Welt in den Büchern
(Foto: Piffl)

Verteidigung der Ambivalenz

Dominik Grafs Dokumentarfilmessay Jeder schreibt für sich allein geht über die Doppelnatur der Menschen

Wie sicher kann ein Mensch sich selber sein? Dieser Film inter­es­siert sich für die Bewusst­seins­struktur der Nazizeit. Für die unmit­tel­bare Wirk­lich­keit, das Lebens­ge­fühl der Zeit­ge­nossen. Wie hat es sich angefühlt?

»Jeder schreibt für sich allein« – Dominik Graf unter­sucht basiert auf dem gleich­na­migen Buch von Anatol Regnier die Biogra­fien einiger sehr bekannter Figuren, die zugleich sehr indi­vi­duell und ambi­va­lent waren in ihrem Verhalten.

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Zum Beispiel Gottfried Benn, der sich zuerst überaus oppor­tu­nis­tisch mit dem Nazi-Regime arran­gierte, seine Freunde verriet, bevor er erkennen musste, dass er sich Illu­sionen hinge­geben hatte: Später, so Florian Illies im Film, reali­sierte Benn dann, dass er einer »unglaub­li­chen Verblen­dung« erlegen war, als er den Aufstieg des Natio­nal­so­zia­lismus begrüßt hatte. Er reagierte mit »Selbst­hass« und subli­mierte diesen dann zu einigen seiner schönsten Gedichte.

Oder Erich Kästner, der Doppel­gänger, der eben nicht so einfach nur ein Wider­stands­kämpfer und ein mit Schreib­verbot belegter Gegner der Nazis war, sondern auch einer, der sich ihnen bald immer wieder andiente, wenn auch weit­ge­hend erfolglos, und der bis zum bitteren Ende auf sonder­bare Weise die schreck­liche Wirk­lich­keit ausblen­dete. Er hat sich durch­la­viert, wie viele andere auch.

Oder Hans Fallada – die gefallene Existenz, die sich doch auf bemer­kens­werte Weise den Versu­chungen der Diktatur weit­ge­hend entzog – und die nach dem Krieg einen der wich­tigsten Wider­stands­ro­mane schrieb, noch getränkt in unmit­tel­barer Erfahrung.

Schließ­lich Thomas Mann, der im Exil das mora­li­sche Deutsch­land vertrat, und genau dafür nach dem Krieg von den Zurück­ge­blie­benen beschimpft oder in falsche Kompli­zen­schaft gezogen wurde.

Daneben treten die Geschichten einiger inzwi­schen unbe­kann­terer Schrift­steller, wie der Best­sel­ler­au­torin Ina Seidel, und allen voran Will Vesper, der heute vor allem noch deswegen erinnert wird, weil seine Schwie­ger­tochter Gudrun Ensslin hieß.

Jeder schreibt für sich allein ist ein Film, der von Kompro­missen und von Oppor­tu­nismus, von mora­li­schen Abgründen und Empa­thie­lo­sig­keit handelt, von Verhal­tens­lehren der Kälte und denen der Wärme, von Bücher­ver­bren­nungen und von Arran­ge­ments. Es ist ein Film, der Linien zieht zu unseren eigenen Verhält­nissen, zum Tota­li­ta­rismus der Gegenwart – und zwar dem in den west­li­chen Demo­kra­tien – und zum Terro­rismus der jüngeren Vergan­gen­heit, von Will Vesper zu Bernward Vesper, eben dem Mann von Gudrun Ensslin, von Gottfried Benn zu dessen begeis­tertem Leser, dem Fass­binder- und Untergang-Produ­zenten Günter Rohrbach, von Erich Kästner zu Dominik Graf selber, der Kästners »Fabian« so wunderbar gegen­wärtig verfilmte, zu unseren Eltern und Großel­tern und unserer eigenen Zukunft.

Jeder schreibt für sich allein ist ein großer Film, weil er schön und zugleich extrem schmerz­haft ist. Allein schon deswegen verdient er es unbedingt, dass ihn jeder sieht.

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Dies ist ein Film, der die Ambi­va­lenzen der Vergan­gen­heit sucht, und mit ihnen auch die unserer eigenen Gegenwart findet.

So heißt es gegen Ende des Films im Kommentar:

»Der Faschismus mag nicht notwen­di­ger­weise einer krank­haften seeli­schen Veran­la­gung sprechen, aber er trägt die Eigen­schaften eines Virus in sich. Wir werden mit unserem eigenen wider­sprüch­li­chen Anteil nicht fertig. Wir verdrängen statt­dessen und verur­teilen.
Wir reden von unseren Werten, um uns in Sicher­heit zu sonnen. Und wichtig ist den Gesund­be­tern dabei das makellose Weiß oder das lücken­lose Schwarz in der Beur­tei­lung anderer.«

Gut oder Böse, Ausschluss oder Dazu­gehören – dazwi­schen gibt es für sie, die dem Faschismus ja eigent­lich Nach­ge­bo­renen – nichts. Sonst müssten sie sich ja mit ihrem eigenen dunklen Selbst konfron­tieren. Und so wird diese Verein­fa­chung der Welt­an­schau­ungen schnell nichts anderes als ein neuer Tota­li­ta­rismus, eine neue Einheits­ideo­logie, diesmal entstanden in der alter­na­tiv­losen Glau­bens­hölle der guten Menschen.

Es gibt vermut­lich keine neuen »großen« Erkennt­nisse in diesem Film. Aber es gibt viele kleine Einsichten. Es gibt Einsichten in die Doppel­natur des Menschen und in die Komple­xität vieler Entschei­dungen.
Was hätten wir gemacht?
Es ist einfach zu sagen: Wir hätten uns hoch­mo­ra­lisch verhalten, wir hätten Wider­stand geleistet und unsere Karriere, viel­leicht das Leben geopfert.

So ist Grafs Film auch wichtig und brennend aktuell. Gerade jetzt in unseren Tagen, in denen die Gewiss­heiten erschüt­tert werden. Gerade jetzt wieder in den aktuellen Kriegen, die uns Posi­tio­nie­rungen abver­langen, und immer wieder Eindeu­tig­keiten sugge­rieren – gerade da, wo die Dinge kompli­zierter und kompli­zierter werden. Gerade in dieser Situation versucht Dominik Graf, die Komple­xität der Dinge nicht wohlfeil zu redu­zieren. Er hält an der Mehr­deu­tig­keit fest, er führt uns allen schmerz­haft vor Augen, dass mora­li­sche Exzellenz nicht jedem gegeben ist. Und dass in der Versu­chung der Eindeu­tig­keit oft die größte Dummheit liegt.

Dieser Film ist eine Vertei­di­gung der Ambi­va­lenz.