Frankreich 2018 · 96 min. · FSK: ab 6 Regie: Yann L'Hénoret Drehbuch: Yann L'Hénoret Musik: Stéphane Lopez Kamera: Yann L'Hénoret Schnitt: Laurent Lefebvre |
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Futuristischer Gender-Switch | ||
(Foto: Studiocanal) |
Jean Paul Gaultier. Von hinten und in Eile, sechs Monate vor seiner Musicalshow »Freak & Chick«: So versucht die erste Einstellung des Dokumentarfilms Jean Paul Gaultier: Freak & Chic von Yann L’Hénoret den exzentrischen und grenzüberschreitenden Modedesigner festzuhalten. Seine dynamische, energische Art findet sich in der Bewegung der Kamera wieder, die durch Kostüme und Menschen streift und zwischen den Szenen hinter den Kulissen und der fertiggestellten Schau hin- und herspringt. Die Vorbereitung auf die Schau sowie die Schau selbst stellen ein buntes Spektakel, ein schönes Chaos dar, das jedoch in sich geordnet zu sein scheint.
Der Film umfasst also die sechsmonatige Produktion von Gaultiers letzter Show »Freak & Chick«. Ausgestellt wird im Film sein ganzes Leben, damit ist der Film auch eine Art Selbstreflexion und Rückblicken auf das Werden und Schaffen.
So erfährt der Zuschauer einiges über den Werdegang des Mode-Künstlers, der persönlich aus dem Off von den einschneidenden Erlebnissen, die er unbedingt in seiner glamourös gewordenen Schau sehen möchte, berichtet. Seine engen Freunde, wie
die Regisseurin der Show, Tonie Marshall, seine Näherin Mireille Simon oder der Komponist Nile Rogers, helfen ihm während dieser spannenden und kreativen Zeit, die Show zu der werden zu lassen, die er sich ausgemalt hat.
Jean Paul offenbart, dass es sein Kindheitstraum war, seine eigene Geschichte in Form einer Modenschau auf der legendären Pariser Varietébühne Folies Bergère zu erzählen.
Um diese Geschichte zu präsentieren, wird ein Defilee mit über 200 Kostümen aus dem Archiv von Jean Paul Gaultier auf die Beine gestellt, begleitet von Highstyle-Choreographien, Theater, Film, Originalmusik und Videoinstallationen.
In diesem Film gibt es keine Interviews: Alle Figuren sprechen aus dem Off, blicken nie in die Kamera. Das evoziert den voyeuristischen Blick des Zuschauers und verwandelt ihn in den Gaultier der 80er-Jahre, der sich als Voyeur, als wohlwollenden Beobachter der damaligen Club-Szene beschreibt, die ihn zu seinen bahnbrechenden, provokativen Kreationen inspirierte. Auch der Künstler selbst ist des Öfteren im Film nur als Nebenfigur zu sehen, als ob er von der Seite auf sein Leben zurückblicken würde.
Seine erste Kindheitserinnerung ist mit seinem Teddybär verbunden, aus dem er als kleiner Junge eine Bärin bzw. eine weibliche Gestalt namens Nana mit konischen Brüsten, die zu seinem Emblem wurden, kreierte. An dieser Stelle thematisiert er zum ersten Mal sein Außenseiterdasein, sein Anderssein bereits als Kind, und bezeichnet sich selbst als Freak. Allerdings wird bei ihm der Begriff »Freak« auf keinen Fall negativ konnotiert: Freak ist derjenige, der anders ist. »Wir sind
alle Freaks für jemand anderen«, schlussfolgert er.
Der Film akzentuiert seinen ungewöhnlichen Blick, der in allen Dingen etwas Schönes findet. So wählt er für seine Schau lauter ungewöhnliche, unkonventionelle, unstandardisierte Modelle mit Piercing, Tätowierung, korpulenteren Formen etc. aus, was längst zu seinem Duktus geworden ist. Die Andersartigkeit ist seine Inspirationsquelle, aus der er unterschiedliche Stile und Formen schöpft.
Sein berühmter Teddybär wird zum Markenzeichen und ist – wie vieles bei Gaultier – mehrfach kodiert: Ursprünglich ist der Teddybär ein Mann, der vom kleinen Jean Paul zu einer Frau »umoperiert« wird. Bemerkenswerterweise kombiniert Gaultier in seiner Schau das Männliche und das Weibliche im Teddybär: die Tänzer treten als Teddys auf, wenn sie sich beim Tanzen drehen, zeigen sich bärtige, korpulente Männer, die von Gaultier mit Brutalität in Verbindung gebracht werden.
Allerdings weiß man nicht, was die Vorderseite, was die Rückseite ist: Letztendlich sind es zwei Seiten einer Medaille, die durch das ständige Umdrehen miteinander verschmelzen.
Dieses Geschlechter-Switchen könnte zudem auf seine legendäre Rock-Kreation für Männer anspielen, die die konventionell weibliche Zuschreibung des Rocks in Frage stellt bzw. sie umkodiert.
Frau als Mann funktioniert bei ihm mindestens genauso gut: In seiner Winterkollektion 2012 traten weibliche Modelle als Dandys in Smokings, Männeranzügen und Zylinderhüten auf. Die Genderverschiebung wird auch in der Schau in Szene gesetzt, indem eine Frau – als Mann angezogen – auf der Bühne Striptease tanzt, sich dabei komplett entblößend: ein Höhepunkt der Weiblichkeit in Form eines Mannes.
Dieses Crossover wird zum Teil ad absurdum geführt: In seiner
letzten Haute-Couture-Show lief ein Modell in einem abgewandelten, zu einem Minikleid verlängerten Korsett mit einem Blazer am Rücken, der hin und her baumelte: eine absolute Verschmelzung der Geschlechter.
Zudem wird das von ihm neu entdeckte Korsett als Ausgehmode (und nicht als Unterwäsche) neu interpretiert. Es ist nicht mehr ein Folterwerkzeug zur Modellierung der Frau, sondern ein Symbol für ihre Kraft, ihre Selbstermächtigung.
Immer wieder aufs Neue zeigt der Film den Bruch mit Tabus und gesellschaftlichen Konventionen, den spielerischen Umgang mit den Geschlechterrollen sowie die Bloßstellung der Protzigkeit der Mode auf eine sehr subtile, witzige und
leicht ironische Art.
Nicht nur Ironie oder Humor, sondern auch Traurigkeit werden im Film zum Thema, so wie der tragische Verlust seines an Aids verstorbenen Lebensgefährten und Gleichgesinnten Francis Menuge. Dieser wird durch einen eindrucksvollen Tanz der Todesagonie im Dunkeln dargestellt, die in einem starken Kontrast zu den vorherigen Bildern von Gaultier und Menuge, umgeben von kitschiger Blumenumrandung, steht.
Dieser Film ist nicht nur ein Film über sein Leben, sondern auch – und vor allem – ein Film über Kunst und Mode und deren siamesische Verbindung in den Kreationen des Modemachers.
Die Mode spielt in diesem Narrativ eine absolut ausschlaggebende Rolle. Die Kostüme in ikonisch gewordenen Designs sind neben der Choreographie die wichtigsten Elemente dieser Schau. Die Kostüme seien wie Mise-en-Scène im Film, so Gaultier. Sie müssten an erster Stelle berücksichtigt
werden, so dass alle weiteren Elemente der Show sich den fragilen Gesetzen der Mode anpassen.
Die Kamera gewährt dem Zuschauer einen flüchtigen Blick auf zahlreiche Kostüm-Reihen von Jean Paul Gaultier. Es sind die verrücktesten, zum Teil kitschigsten, glitzernden, zum Teil klassisch matrosengestreiften bzw. schwarzen, zum Teil komplett mit Spitze oder Netz besetzten höchst extravaganten Haute-Couture-Kreationen, die in der »Freak & Chick Show« auf der Bühne vorgeführt werden. Die phantasievolle Mischung aus der Choreographie von Marion Motten, Musik und Kostümen erzählt exzentrisch und eindringlich von einem spektakulären und bewegenden Leben eines Künstlers, der durch sein visionäres Werk Vieles und Viele bewegt hat.