The Irishman

USA 2019 · 209 min. · FSK: ab 16
Regie: Martin Scorsese
Drehbuch:
Kamera: Rodrigo Prieto
Darsteller: Robert De Niro, Al Pacino, Anna Paquin, Joe Pesci, Harvey Keitel u.a.
Nur in ausgewählten Kinos: Wiedersehen mit Scorseses »goodfellas«

Der letzte Walzer

Die Kamera fließt. Sie fließt wie ein langer ruhiger Fluss, verläss­lich, nie stehen­blei­bend, mal schnell und zuckend wie ein Gebirgs­bach um kleine Strom­schnellen, dann wieder verbrei­tert sie sich zu einem Delta, dreht sich um sich selbst, und der Blick des Zuschauers erfasst die ganze Szene. Es ist die minu­ten­lange Auftakt­se­quenz zu einem Film, der sich alle Zeit nimmt, und sich auch sonst den Gesetzen des Gegen­warts­kinos verwei­gert.

Die Kamera fließt durch Korridore und um Ecken, begleitet von einem Radiohit aus früheren Jahren, dem Lied »In the Still of the Night«. Aber im Gegensatz zu einigen sehr ähnlichen Sequenzen aus früheren Filmen Martin Scorseses, die zur unver­wech­sel­baren Hand­schrift dieses Regis­seurs und seiner Kame­ramänner Michael Ballhaus und Robert Richardson gehören – befinden wir uns weder in einem Nacht­lokal, noch in einer Spiel­hölle, sondern in einem Alten­pfle­ge­heim. Statt Kellner und Musiker, statt dienende Männer und Frauen sieht man Ärzte und Pfleger. Das Leben zeigt sich von seinen unan­ge­nehmsten Seiten.

In dem Raum, in dem die virtuose Kame­ra­fahrt schließ­lich zum Still­stand kommt, wartet ein alter Mann in einem Rollstuhl. Der Tod ist nahe. In den nächsten drei­ein­halb Stunden wird er diesen Tod noch einmal aufhalten, indem er seine Geschichte erzählt. Mal witzig, mal schreck­lich, vor allem absurd in ihrem Inein­an­der­greifen von Witz und Schrecken. Aber immer dunkel. Schluss mit lustig. Scorsese stülpt in diesem Film das Innere all seiner früheren Filme und wendet es – zumindest ein wenig – gegen diese selbst. Der Tod ist nahe.

Man sollte daher alles vergessen, was man zu wissen glaubt und erwartet von einem Film von Martin Scorsese. Zwar löst The Irishman alles dies ein: Der 25. Spielfilm des italo­ame­ri­ka­ni­schen New Yorker Meis­ter­re­gis­seurs, der seit 45 Jahren, seit seinem Welterfolg Taxi Driver zu den besten Kino­künst­lern seines Landes gehört, der ein Dutzend maßgeb­li­cher, auch stil­prä­gender und star-gespickter Werke gedreht hat und trotzdem immer auf Distanz zu Hollywood blieb, ist über zwei­ein­halb Stunden ein sehr unter­halt­samer Gangs­ter­film. Intel­li­gent und kurz­weilig, bezau­bernd charmant – und bezau­bernd altmo­disch.

Vor allem darin, wie er ungerührt, so roman­tisch und liebevoll, wie zugleich klar­sichtig und kritisch von einer Handvoll knall­harter Männer erzählt, deren Leben aus Männer­ri­va­li­täten besteht, aus Protzen und Angeberei, aus schicken Anzügen, glän­zenden Autos und schönen Frauen, aus Drinks und Knarren.

Und aus einem immer schon frag­wür­digen Ehrbe­griff, der nicht nur viel mit Frauen und Verbre­chen zu tun hat, sondern noch viel mehr und vor allem mit der Fähigkeit zu schweigen.

Dies ist die Adaption eines 15 Jahre alten Sachbuchs über Frank Sheeran, einen Mann, der die Schnitt­stelle zwischen der Mafia und der mafiös unter­wan­derten ameri­ka­ni­schen Fern­fah­rer­ge­werk­schaft bildete. Diese war seit Mitte der 50er Jahre für zwei Jahr­zehnte mit dem Namen von Jimmy Hoffa verbunden, eines legen­dären Gewerk­schafts­prä­si­denten, der die Regie­renden in Washington offen heraus­for­derte, besonders den demo­kra­ti­schen Justiz­mi­nister Robert Kennedy, der erfolglos versuchte, ihm das Handwerk zu legen.

Hoffa, der im Kino bereits mehrfach verkör­pert wurde, unter anderem von Jack Nicholson (1992 in einem Biopic, das von David Mamet geschrieben und von Danny DeVito insze­niert wurde), wurde zu einem Medi­en­helden. »Er war wie Elvis«, heißt es im Film, »in den 60ern war er größer als die Beatles.«

Aber 1975 verschwand Hoffa spurlos, 1982 wurde er für tot erklärt – ein aufre­gender, bis heute rätsel­hafter Fall. Bei Frank Sheeran handelt es sich nun um jenen Mann, der sich selbst des Mordes an Hoffa bezich­tigte. Der Film erzählt auch diese Geschichte.

So weit, so gut. Und so erwartbar. In der letzten Stunde des Films ändert sich die Perspek­tive aber komplett. Da wird aus dem Film ein bewe­gendes Portrait über das Altern, über Verrat und über Bedauern. Das Ende enthüllt die Wahrheit über Anfang und Mitte davor.

Dieser Film ist ein Ereignis! Auch weil er ein neuer Meilen­stein der digitalen Tech­no­logie und ihrer Fähigkeit zur Bilder­ma­ni­pu­la­tion bedeutet. Denn alle Figuren altern oder verjüngen sich hier mit vor allem tech­ni­scher Unter­stüt­zung über Jahr­zehnte.

The Irishman versam­melt zwei der größten lebenden Star des ameri­ka­ni­schen Kinos: Robert de Niro (als Frank Sheeran) und Al Pacino (als Jimmy Hoffa) überhaupt erst zum zweiten Mal in ihrer Karriere im gleichen Film.

Vor allem aber ist dies ein Parcours durch die vergan­genen siebzig Jahre US-ameri­ka­ni­sche Geschichte, durch jenen Teil des ameri­ka­ni­schen Jahr­hun­derts, in dem Macht und Geld, Politik und Verbre­chen, fast unun­ter­scheidbar mitein­ander verschlungen waren. Ein Jahr­hun­dert, in dem sich alle idea­lis­ti­schen Hoff­nungen, die mit ihm – gerade auch in Amerika! – verbunden waren, zerschlugen.

In The Irishman zieht Martin Scorsese Bilanz. Er zeigt eine Handvoll jener »alten weißen Männer«, von denen derzeit so viel und gern und oft verächt­lich geredet wird, und zeigt, wie sie alle, ob sie nun den Film überleben, oder eben in den meisten Fällen nicht, letzt­end­lich Geschei­terte sind. Der Regisseur bilan­ziert aber auch das eigene Lebens­werk: Was war das alles? Wofür? Wozu war es gut?

Auch wenn Scorsese, der in diesen Tagen 77 Jahre alt wird, bestimmt noch einige Filme in sich trägt: Man kann The Irishman nicht anders als als sein Vermächtnis deuten.

Er ist eine Rückkehr zu Scorseses Ursprüngen. Und zu einigen seiner besten Filme. Dies ist in seinem Anspruch, aber auch stilis­tisch und hand­werk­lich Scorseses bester Film seit über 20 Jahren, seit Casino und Good­fellas.

Ein heraus­ra­gendes Filmwerk, das das Kino mit seiner großen Leinwand unbedingt verdient. Auf einem kleineren Bild­schirm, egal was für einem, sollte man ihn nicht sehen. Da verpasst man zuviel.