F/GB/D/E 2000 · 120 min. · FSK: ab 16 Regie: Patrice Chéreau Drehbuch: Patrice Chéreau, Hanif Kureishi, Anne-Louise Trividic Kamera: Eric Gautier Darsteller: Mark Rylance, Kerry Fox, Timothy Spall, Marianne Faithful u.a. |
Sex unter Fremden: Eine Frau und ein Mann vollziehen jeden Mittwoch einen leidenschaftlichen, anonymen Liebesakt in einem heruntergekommenen Londoner Apartment. Keine Gespräche. Keine Verpflichtungen. Und keinerlei emotionale Verstrickungen: Erotik pur. Klar, dass die Sache schief gehen muss. Irgendwann will immer einer mehr, in diesem Fall Jay (Mark Rylance), ein verbitterter, von der Liebe enttäuschter Barkeeper. Fasziniert von der schweigsamen Claire (Kerry Fox), folgt er ihr eines Tages heimlich.
So entdeckt er, dass Claire als Laienschauspielerin in dem Keller einer Bar auftritt. Bei dieser Gelegenheit lernt er ihren Ehemann Andy (Timothy Spall) nebst Sprössling kennen. Bei dem einen Besuch bleibt es nicht: Jay freundet sich mit Andy, einem redseligen, dicken Taxifahrer an, um mehr über seine Mittwochsgeliebte zu erfahren. Eine groteske Situation. Und dann kommt schließlich der Tag, an dem Jay vergeblich auf Claire wartet...
Was an diesem Film heftig diskutiert wurde, sind seine offenherzigen Sexszenen. Wie einst bei Bertoluccis Der letzte Tango in Paris schrien die Hüter der Moral empört: Pornographie! Und wirklich wird der Zuschauer von der Ungeschminktheit der Liebesszenen zunächst überrumpelt. Hier hält keine Bodydouble den perfekten Po in die Kamera, hier sehen die ineinander verschlungen Körper aus, wie sie eben aussehen: mit Abdrücken von hastig abgestreiften Kleidungsstücken und den ersten Anzeichen altersbedingten Verfalls. Kein warmes Schmeichellicht und erst recht kein Softzeichner verleihen dem Geschehen einen träumerischen Anstrich. Das Licht ist hart, bläulich und fahl – und den Protagonisten ist das verdammt egal. In dieser Situation gehört ein erigierter Penis schlicht zur Natur der Sache. Und schließlich staunt der Zuschauer nur noch über den Mut und die Ehrlichkeit, die diese Szenen auszeichnen: Qualitäten, die den gesamten Film prägen. Bei der diesjährigen Berlinale wurden sie mit dem Goldenen Bären für den besten Film und einem Bären für Kerry Fox als beste Hauptdarstellerin gewürdigt.
Intimacy heißt der Film, und Intimität ist sein Thema, wenn auch mehr gemäß der ursprünglichen Wortbedeutung: »vertraut, eng, innig«. Eben dies wird bei aller physischen Nähe zunächst ausgeklammert. Jay und Claire errichten eine künstliche Schranke zwischen Körper und Seele. Die Konstellation erinnert an Frédéric Fonteynes Eine pornographische Beziehung. Aber während dort von Anfang an klar ist, dass es sich, entgegen der getroffenen Abmachung, um eine Romanze handelt, kommt Intimacy ungleich spröder, direkter, härter daher. Doch auch in Intimacy scheitert das Konzept des anonymen Sex ohne emotionale Verstrickungen: Die Sehnsucht der Menschen nach echter Nähe jenseits des physischen Kontakts ist schließlich stärker als ihre Angst, verletzt zu werden.
Regisseur Patrice Chérau (Die Bartholomäusnacht) gelingt es, die Geschichte der beiden Liebenden mit einem Höchstmaß an schmerzlicher Sensibilität zu erzählen. Erst nach und nach enthüllt der Film die Hintergründe für das Verhalten der Protagonisten, gibt Einblick in tiefe seelische Verletzungen, Sehnsüchte, Einsamkeit. »Ich halte nichts davon, meine Wunden herzuzeigen und den ganzen Scheiß«, erklärt Jay. Doch am Ende mistet er nicht nur sein verwahrlostes Apartment aus, er wagt es auch, sich Claire zu offenbaren. Und obwohl längst klar ist, dass ihre Liebe außerhalb des heimlichen Arrangements keinen Bestand haben kann, beginnen die alten Wunden endlich zu heilen.
Warum eigentlich? Bis zum Ende bleibt unklar, was diese beiden Menschen aneinander fasziniert. Keine Gründe und schon gar keine Begründungen. Wo ist der Moment, an dem alles begann, wo der Blick, der die entscheidende Sekunde zu lang dauerte? Wo vor allem ist das Begehren? Sex, behauptet Intimacy, geht ohne Worte. Liebe, behauptet Chéreau, braucht keine Sprache. Sie ist, was sie ist, sagte schon Erich Fried. Und vielleicht ist einfach ein bißchen zuviel Erich Fried in diesem Film. Begehren aber, so darf man fragen, ist doch noch etwas anderes? Weder Sex, noch Liebe. Und es ist gerade nie, was es ist – im Gegenteil.
Eine Film-Offenbarung ist Intimacy nicht. Stilistisch wirkt Chéreaus Perspektive wie ein – manchmal kluger, manchmal etwas unentschieden planloser – Kompromiss zwischen den drei Stiltendenzen des Weltkinos: der subjektiv-wirren Handkamera der Dogma-Gruppe, dem durch hochkomplexe Schnitt-Techniken und Story-Verschachtelung dominierten Kino à la Soderbergh und der mehr oder weniger klassisch-linearen Erzählweise der anderen. Eine
Großaufnahme reiht sich an die nächste, als ob die Kamera die Hände ersetzen könnte, als ob durch Nähe irgend etwas zu begreifen wäre. Diese Denk- und Artikulationsschwäche, der Verzicht auf Argumentation durchs Bild könnte eine Stärke des Films sein, denn sie spiegelt die Sprachprobleme in der Liebe, die ungezählten Situationen, in denen der Besitz des Körpers des Anderen zum Ersatz wird, für alles, was sich einem entzieht.
Fast keine Totale, das heißt auch: kein Überblick,
keine Analyse, kein Gott, der die Welt ordnet für uns. Flucht ins Unvermittelte. Ist das die Intimität, nach der Chéreau hier sucht, die sich nicht als Vertrautheit darstellt, sondern als grenzenlose Einsamkeit, aus der man sich nur kurz im Anderen verliert?
Fragen über Fragen. Dass er sie stellt, ist gut an diesem Film. Dass er sie nicht beantwortet, ist schlecht. Ja genau: Einige werden jetzt wieder sagen, dass ein Film gerade dann gut ist, wenn er mehr Fragen stellt, als Antworten gibt, und eindeutige sollte er nie geben. Stimmt. Aber nur fragen, und sich in seinen Fragen suhlen, wie im Selbstmitleid eines Mannes, der von einer Frau zum Objekt der Begierde reduziert wird, ist ein bißchen billig.
Erste Intimität. Eine Frau betritt hastig das Haus eines Mannes, der ihr die Tür geöffnet hat. Im Chaos eines von Einsamkeit bewohnten Zimmers reißen sie sich gegenseitig die Kleider vom Leib. Der nahe Kamerazoom verdichtet die nackten Körper, die miteinander schlafen. Klebt schonungslos an der porigen Haut. Das Stöhnen von Jay und Claire, bis sie voneinander lassen. Sich dann anziehen. Claire, die das Haus verläßt. Ein unsicherer Blick zum Abschied und schnelle Schritte, die die Straße hinuntereilen. Es gibt nur den Moment der Begegnung, kein Vorher, kein Nachher.
Zweite Intimität. »And next wednesday, is that a wednesday, too?« Die Verletzbarkeit liegt nicht in der Nacktheit von Jay und Claire. Die Verletzbarkeit liegt in der Offenlegung, in der Preisgabe der eigenen Emotionalität. Die Unsicherheit, das Nachfragen nach der nächsten Zusammenkunft entlarvt, daß sich das Denken eingeschlichen hat in den Körper, daß Emotionen jenseits des Triebes entstanden sind, eine Nähe gesucht wird, die nicht mehr in der bloßen Zusammenkunft zweier Körper besteht. Die Offenlegung des immer verschwiegenen, im Stillschweigen jedoch verläßlichen Prinzips »Mittwoch« leitet das Ende der Gesetzlichkeit ein. Die Zusammenkunft wird reflektiert und schiebt Distanz zwischen die Körper. Triebhaftigkeit war nur möglich unter der Maske des Nichterkanntseins. Jetzt, wo dem Zeitpunkt der Zusammenkunft die Anonymität genommen wurde, zeigt sich, wie notwendig die Schweigsamkeit für die Nacktheit war. Ein Bruch, ein Riß ist entstanden. Die Frau wird gehen, der Mann sie verfolgen. Aber nicht mehr Nähe, sondern Distanz wird die Beziehung zwischen ihnen bestimmen. Das bereitwillige Zeigen des Körpers wird dem Voyeurismus weichen, der die andere Person heimlich sucht. Der nicht mit den Augen die Nacktheit des Körpers bedrängt, sondern, indem er die Existenz des anderen befragt, in dessen Sein einbricht. Und damit die größte Intimitätsverletzung herbeiführt, die zwischen zwei Menschen überhaupt denkbar ist.
Ende der Intimität. Patrice Chéreau hat mit Intimacy die diffizile Grenze spürbar gemacht, ab der Intimität beginnt. Ist Sex allein schon Intimität? Kann sich der Körper nicht viel leichter öffnen als sich das Leben einem anderen Menschen? Steckt Intimität nicht in dem, was man zu schützen bereit ist, was man vor dem anderen verbirgt und ihm nur vielleicht, und unter bestimmten Voraussetzungen zeigen wird? Intimacy zeigt die Abwesenheit von Intimität inmitten des bedingungslosen Begehrens des Fleisches. Erst wenn der andere erkannt ist, ist die Nacktheit vollkommen und Intimität erreicht. Aber dann verliert das Begehren den Respekt vor dem anderen, das Aushalten der Distanz. Das Begehren, das die Nachstellung von Claire durch Jay begleitet, ist das eines Stalkers. Der Versuch einer besitzergreifenden Vereinnahmung, gegen das Wissen und den Willen des anderen. Dort, wo Intimität zurückgehalten wird, sich der Zusammenkunft der nackten Körper entzieht, aber gewaltsam gesucht wird, scheitert sie. Verantwortlich für das Scheitern der Intimität ist das Sprechen, das Aufkommen der Sprache als Vermittlerin zwischen den Existenzen von Claire und Jay. Begann der Film in kompletter Wortlosigkeit, in der die einzige Diskursivität im tastenden Blick der Kamera bestand, wird die Beziehung zwischen Claire und Jay am Ende des Films durch das Wort ausgetragen und -getrieben. Das Wort kann die Existenz des anderen nicht vermitteln. Erst wenn zum Schweigen zurückgekehrt wird, kann wieder die Intimität der Körper stattfinden, die das Gegenteil von intimer Nähe bedeutet.
Dritte Intimität. Das Intime zeigt sich dort, wo die Existenz im Alleinsein erfahren wird, und wo sie in gefährliche Nähe zu einem anderen Menschen gerät. Das gilt nicht nur für das Leben im Allgemeinen, das zeigt sich vor allem in der Erfahrung des Körperlichen. Man sieht Jay in seinem früheren Leben. Seine Frau will nicht mehr mit ihm schlafen. Jay geht ins Badezimmer. Masturbiert und kommt über der Kloschüssel. Gerade als er seinen Schwanz wieder in die Pyjamahose packt, geht die Tür auf. Sein Sohn steht vor ihm. Er hat ins Bett gepinkelt. Sein Vater tröstet und trocknet ihn. Die Intimität wird spürbar in dem Fasterkanntwerden des Vaters und in der Offenheit des Kindes. Beide Male wird die empfindliche Grenze körperlicher Verborgenheit touchiert.
Letzte Intimität. Die Nacktheit zwischen Claire und Jay bedeutet nicht eigentlich auf der Ebene des Plots Intimität, sondern erst auf jener transfiktionalen Ebene, die sich zwischen Zuschauer und Leinwand aufspannt. Das Skandalon, das das nackte Intimsein begleitet, welches sich bereitwillig dem (anonymen) Publikum zeigt, ist nicht der erigierte Schwanz, der die triebhafte Geilheit von Jay anschaulich macht. An sie sollte der Betrachter allmählich gewöhnt sein nach dem Bildersturm, der den menschlichen Sexus aus der Pornographie befreit hat, durch Filmemacher wie Despentes, Breillat und von Trier. Das lustverwandelte menschliche Geschlecht im Bild ist heute jedes Skandalverdachts enthoben, eine allenfalls forcierte Darstellung von Körperlichkeit. Das, was in Intimacy die Nacktheit so intim und auf der Leinwand aufsehenerregend macht, steckt im Körper von Claire, in der Verkörperung durch Kerry Fox. Sie erscheint älter als Jay (Mark Rylance), und ihr Körper zeigt nicht mehr jene Konturen, die in den gesellschaftlich produzierten Bildern die Ikonen der Begehrlichkeit umfassen. Busen, Bauch und Schenkel statten Kerry Fox mit einer Nacktheit aus, die keine öffentliche Abbildung erfährt, in der Intimsphäre des privaten Schlafzimmers zurückgehalten wird. Kerry Fox zeigt mit ihrem Körper eine Frau, die gesellschaftlich im erotischen Abseits steht, der Körperlichkeit und Begehrlichkeit abgesprochen wird, und die hier, im Film, ganz ihre Lustbarkeit auslebt. Chéreau zeigt den verborgenen und öffentlich verachteten Körper in Bildern, die das bedingungslose Begehren inszenieren. Die Befreiung der Bilder aus dem Korsett gesellschaftlicher Verschämtheit ist, was Intimacy zum ästhetischen Politikum macht.