Ägypten/D 2016 · 118 min. Regie: Tamer El Said Drehbuch: Tamer El Said, Rasha Salti Kamera: Bassem Fayad Darsteller: Khalid Abdalla, Laila Samy, Hanan Youssef, Maryam Saleh, Hayder Helo u.a. |
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Märchenhafte Suche nach der verlorenen Zeit und gegenwärtiges Kino in einem |
Filme aus Ägypten sieht man in Deutschland selten. Um so spannender ist nun, das Langfilmdebüt des ägyptischen Regisseurs Tamer El Said: In den letzten Tagen der Stadt verbindet diverse Perspektiven, Filmmaterialien, Stilmittel und Formen, Fiktion und Dokumentarisches. Dieser Film, der bei der Berlinale 2016 mit dem »Caligari-Preis« ausgezeichnet wurde, ist, ein Paradebeispiel für Engagement und künstlerischen Aktivismus jenseits des allzu-Erwartbaren. Gegenwärtiges, hellwaches Kino, das die politischen Veränderungen im Vorfeld des »Arabischen Frühlings« seismographisch registriert.
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»Islam is coming, Quran must rule« brüllen die Muslimbrüder. Ein Taxifahrer schimpft über Proteste. Zwei-, dreimal zeigt ein Blick in ein Geschäft nackte Schaufensterpuppen. Der Erzähler, ein Filmemacher spricht über seine Absicht: »To capture the feeling that something big will happen.«
»You talk about the past and lament.« sagt ein Freund der Hauptfigur. Und ein anderer: »Where has poetry gone?« Und mehrfach hören wir ein arabisches Wort: »Nifzi« – »I want to...«
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Ein junger Mann streicht durch die Metropole Kairo, vorbei an kleinen Läden, an Autos, die im ständigen urbanen Stau vor sich hin kriechen, an fahrenden Händlern, die sie mit ihren Holzkarren überholen. Im Hintergrund sieht man den Nil, prachtvoll im goldgelben Abendlicht, wie er schon zur Zeit der Pharaonen dagelegen haben mag, die unzähligen Parks, die uns Europäern unbekannte Pracht der Metropole Kairo. Immer wieder sitzt der junge Mann im Café. Er heißt Khalid, hat trotz seines Alters bereits schütteres Haar und sucht eine neue Wohnung, denn aus seiner liebgewordenen alten muss er heraus. So lernen wir ihn kennen, einen Filmemacher, der an seinem ersten Film arbeitet, und für uns in Bild wie Ton nachvollziehbar die Geschichte seiner Familie rekonstruiert. Der Vater ist tot, die eine Schwester starb einst als kleines Mädchen bei einem Autounfall in Libyen, die andere Schwester trifft er gelegentlich, wie auch seine Mutter, die schwerkrank im Krankenhaus liegt. Ein Stabwechsel der Generationen. Eine Reise zwischen der Erinnerung an Ägyptens große Geschichte und unsicherer Zukunft: Denn Khalids Freundin, eine moderne emanzipierte Frau, hat ihn verlassen, weil sie die repressive Stimmung im Land nicht mehr erträgt. Es ist das Jahr 2010, also noch kurz vor dem arabischen Frühling, der auch Ägyptens modernen Pharao Mubarak stürzte. Im Hintergrund berichten zwischen Fußballspielen und billigsten Unterhaltungsshows die Fernsehnachrichten von Unruhen und künden das Kommende an.
Mit Khalid und seinem Makler, mit dem er regelmäßige Wohnungsbesichtigungen unternimmt, lernen wir diesen langen Winter vor der Revolution kennen. Wir entdecken so auch durch die Kaffeebesuche, Khalids Erinnerungen, wie auch durch die Geschichten, die die Wohnungen erzählen, die Khalid mit seinem Makler besichtigt, auch Ägyptens Hauptstadt Kairo als einen lebendigen vom alltäglichen Leben erfüllten Organismus, zugleich als Landkarte der Sehnsüchte und Träume, als
Traumfabrik.
Khalid hat drei enge Freunde. Sie treffen sich regelmäßig, reden, tauschen Sorgen, Träume, Erlebnisse, Gefühle. Irgendwann treffen sie sich zum letzten Mal, bevor sie sich am nächsten Morgen trennen, und während Khalid in Kairo bleiben wird, geht der eine nach Berlin, der zweite nach Beirut in den Libanon, der dritte nach Baghdad. Auf aufregende Weise visualisiert der Film dann kurz die Zukunftsträume der drei und spielt in solchen Augenblicken dann auch damit, dass
wir im Publikum schon mehr wissen: Was kommen wird in diesen Ländern, wie in Ägypten.
In den letzten Tagen der Stadt, das Langfilmdebüt des ägyptischen Regisseurs Tamer El Said, verbindet diverse Perspektiven, Filmmaterialien, Stilmittel und Formen. Dies ist ein Film, der zugleich fiktional wie dokumentarisch ist, in seinem Kern aber eine subjektiv-essayistische Betrachtung. In den letzten Tagen der Stadt In den letzten Tagen der Stadt ist ein intimes Selbstportrait des Regisseurs, der biographische Elemente, Anekdoten und Figuren – die kranke Mutter im Film ist die des Regisseurs – unverblümt in diesen Film einfügt, wobei Tamer El Said trotzdem nicht mit seiner Hauptfigur Khalid (im Film gespielt von dem in Großbritannien lebenden Khalid Abdallah) zu verwechseln ist. Dies ist auch eine Selbstreflexion des Mediums, ein Film über das Filmemachen, und zugleich eine sehr politische Betrachtung der letzten Monate vor der Revolution.
El Said stellt sich die Frage, wie man das das Universum einer Stadt im Kino überhaupt erzählen könnte? Sein Film beantwortet sie aufs Überzeugendste: Fragmentarisch, mit wachem Auge dem Zufall sich hingebend und zugleich durch ausgefeilte Inszenierungskunst. Nostalgie und Sinnlichkeit sind hier mit Intelligenz verbunden. Dies ist ein Film, der große Vorbilder kennt, ob sie nun Rossellini heißen, Godard, Chris Marker oder vielleicht auch Dominik Graf – der sich aber nie
sklavisch von ihnen abhängig macht. Er stellt uns indirekt und voller stilistischer List unter der Hand eine ganze Region vor, die viel zu Unrecht lange im Schatten lag, und jetzt zwar im Fokus der Nachrichten liegt, deren Wahrnehmung aber von den Wolken der Dummheit und der Vorurteile immer wieder verdunkelt wird.
In den letzten Tagen der Stadt ist ein sehr origineller Film, ein Paradebeispiel für Engagement und künstlerischen Aktivismus
jenseits des allzu-Erwartbaren, dafür, dass es im Kino nicht darum geht, »politische Filme zu machen, sondern politisch Filme zu machen« (Godard). Tamer El Said gelingt eine märchenhafte Suche nach der verlorenen Zeit und dabei ganz gegenwärtiges, hellwaches Kino.