In den Gängen

Deutschland 2018 · 120 min. · FSK: ab 12
Regie: Thomas Stuber
Drehbuch: ,
Kamera: Peter Matjasko
Darsteller: Franz Rogowski, Sandra Hüller, Peter Kurth, Andreas Leupold, Sascha Nathan u.a.
Helden der Dunkelheit: Sandra Hüller & Franz Rogowski

Poesiealbum des Abgrunds

Wer hat sie nicht vor Augen, die unzäh­ligen Film­szenen, in denen sich die Prot­ago­nisten zufällig in einem Super­markt begegnen und ihre Bezie­hungen auf die eine oder andere Art und Weise über­ra­schende Wendungen erfahren. Das liegt natürlich an der Sache selbst, denn in dieser Wagenburg kapi­ta­lis­ti­scher Grund­er­fah­rung werden selbst unklarste Gefühle durch die kris­tall­klare, alles runter­küh­lende Natur des Neon­lichts und die dementspre­chend modi­fi­zierten Farb­spek­tren des Waren­an­ge­bots zu einer klärenden Katharsis regel­recht gezwungen.

Dass noch weit mehr geht, dass die Neben­dar­steller zu Haupt­dar­stel­lern werden können, dass sogar Regal­reihen, Gabel­stapler und Regalauf­füll­rou­tinen zu Poesie und noch weit mehr, einer strin­genten Geschichte taugen, zeigt Thomas Stuber in seinem auf der dies­jäh­rigen Berlinale erstmals gezeigten Film In den Gängen. Stuber hat für seinen Film mit Clemens Meyer ein Drehbuch geschrieben, das auf einer Kurz­ge­schichte Meyers basiert, die in dessen Erzähl­band »Die Nacht, die Lichter« (2008) erschienen ist. Schimmern schon in dem kurzen Text Meyers dessen eigene, lang­jäh­rige Erfah­rungen als Gabel­stap­ler­fahrer in einem Großmarkt durch, so verstärkt sich diese Wirkung In den Gängen noch einmal, pene­trieren sie das Drehbuch und damit den Film wie die Akupunk­tur­na­deln einen kranken Körper.

Der »Körper«, von dem Meyer und Stuber erzählen, ist ein Großmarkt zwischen Leipzig und Bitter­feld, in dessen Regal­schluchten Christian (Franz Rogowski) Nacht für Nacht seine Ausbil­dung und Probezeit als Gabel­stap­ler­fahrer beginnt und zusammen mit Bruno (Peter Kurth) für die Geträn­ke­ab­tei­lung zuständig ist. Der immer mehr zum väter­li­chen Freund werdende Bruno führt Christian jedoch nicht nur in die Fein­mo­torik des Stap­ler­fah­rens und Regal­be­fül­lens ein, sondern auch in die feinen Bezie­hungs­ver­ä­ste­lungen der Mitar­beiter, zu denen auch Marion (Sandra Hüller) gehört, die irgend­wann mit Christian zu flirten beginnt.

Allein schon die Ensem­ble­leis­tung, das dichte, intensive Spiel von Hüller, Kurth und Rogowski macht es leicht, Stubers Film zu mögen, mit jeder Minute mehr und immer neugie­riger in das fragile, aber zarte Bezie­hungs­ge­flecht von Menschen einzu­dringen, um die sich sonst niemand kümmert, die kaum einmal in Erzäh­lungen, geschweige denn in Filmen auftau­chen, »Abge­hängte« einer Gesell­schaft, die bereits davor kapi­tu­liert hat, an so etwas wie Inte­gra­ti­ons­ver­suche auch nur zu denken.

Was sich viel­leicht lesen mag wie ein Sozi­al­drama im Stil von Ken Loach, sieht in Stubers Film aller­dings völlig anders aus. Denn mit einer über weite Strecken sprach­losen Inten­sität, einer bis in die Poren krib­belnden Authen­ti­zität – allein die Details der Großmarkt-Umkleide oder das Interieur von Kurts Haus sind Meis­ter­leis­tungen detail­ver­liebter Recherche und ethno­gra­fi­scher Neugier – und über musi­ka­li­sche Unter­ma­lungen, die von »Kubricks« An der schönen blauen Donau über den Blues von Son House bis zum Pop von Son Lux reichen, gelingt Stuber fast so etwas wie ein univer­selles Poesie­album des Abgrunds zu erschaffen, in dem sogar poli­ti­sche Verwer­fungen noch ihren Raum haben.

Doch selbst diese bis in die DDR-Historie mäan­dernden und in die ostdeut­sche Misere von heute verwei­senden Schraf­furen sind so fein gemalt, dass sich In den Gängen wohltuend nicht auf ein Sujet festlegen lässt, dass es am Ende immer dann doch vor allem um die Menschen geht, die sich in einer von ihnen entfrem­deten Gesell­schaft darum bemühen, dann doch so etwas wie eine Heimat zu finden.