Deutschland 2020 · 90 min. · FSK: ab 12 Regie: Dominik Graf Drehbuch: Bernd Lange Darsteller: Jörg Hartmann, Anna Schudt, Nora Dalay, Rick Okon, Miroslav Nemec, Udo Wachtveitl u.a. |
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50 Jahre Tatort-Jubiläum mit viel Doppelsinn für das Thema »Familie« | ||
(Foto: WDR / Frank Dicks) |
Ein Messerstich in einem Münchner Park steht ganz am Anfang. »Lesse Moi« sagt das Opfer, offenbar ein Migrant aus einem Staat des französischen Afrika. Seine schwere Wunde wird dem Mann bald den Tod bringen. Mit letzter Kraft jagt er seinen Sohn weg, die blutige Hand greift Kokainbriefchen, wie um dem herbeigeeilten Kommissar Batic zu signalisieren, um was es geht.
Ein eher konventioneller »Tatort«-Anfang, aber nur um sofort danach um so unkonventioneller weiterzugehen: Szenenwechsel, Dortmund, wo der Film nun bis zum Ende bleiben wird. Eine Polizeiüberwachung. Und jetzt ist Regisseur Dominik Graf erst richtig in seinem Element. Vielleicht auch, weil der Dortmunder »Tatort« im Gegensatz zu den allermeisten anderen nicht von einem Ermittlerpaar, sondern von einem Team erzählt. Vielstimmigkeit, schnelles Hin und Her, Erinnerungen an Im Angesicht des Verbrechens werden wach: Temporeich werden Tricks und Facetten der Überwachung gezeigt. Dazu sehr dezent eingesetzte, pulsierende, das Tempo unmerklich forcierende Musik, auch später immer kaum hörbar, aber dadurch präsent. »Sehr gute Musik« denkt man, bevor später klar wird, dass es natürlich Florian van Volxem und Sven Rossenbach sind, deren Anteil zu Grafs Filmen man gar nicht geringschätzen kann.
Auch in den folgenden Minuten der ersten Filmhälfte lässt sich Graf glücklicherweise viel Zeit, um diese Familie zu entfalten, Atmosphäre sprechen zu lassen und dem Reden der Figuren (Italienisch mit Untertiteln) zuzuhören. Dazu schöne stimmungsvolle Bilder, Innenansichten kleinbürgerlichen Lebens, und einprägsame Vignetten: Ein großes Messer auf einem Stadtplan von Dortmund. Blut auf einem Butterbrot.
Das ist kein Fernsehen. Das ist ein Film.
Es geht auch hier um Drogen. Eine Dortmunder Trattoria bekommt eine Lebensmittellieferung aus Italien. Diesmal versteckt sich auch ein junger Mann im Laster, der für eine Weile untertauchen muss. Luca Modica (Beniamina Brogi), der Wirt wusste davon nichts, will den ungebetenen Gast mit den schlechten Manieren und dem brutalen Gesicht nicht bei sich behalten. Er stelle »zu viele Fragen«, hört der Luca. Das sei ein »zu großer Fisch« für ihn. Besser gehorchen.
Der Titel In der Familie (Drehbuch Bernd Lange) erweist sich dabei von Beginn an als mehrdeutig. Denn natürlich ist hiermit en passant auch die »Tatort«-Familie gemeint, die sich mit diesem »Doppeltatort«, deren Fortsetzungsfolge am kommenden Sonntag von Pia Strietmann inszeniert wurde, selbst ein Geburtstagsgeschenk zu »50 Jahre Tatort« gemacht hat. Vor allem aber geht es um den Doppelsinn des Wortes Familie, das hier sowohl die Modicas meint – Vater Luca,
Mutter Juliane (Antje Traue), Tochter Sofia (Emma Preisendanz), die aufs Brutalste von der Mafia zerstört werden – und zum anderen die eigentliche Familie im Hintergrund, die Mafia, in diesem Fall die kalabresische Ndrangheta und ihren bekanntlich sehr speziellen Familiensinn.
Wir Zuschauer wissen von Anfang an mehr als die Polizei, die nicht genug Beweise hat, nur Indizien. Und »Indizien sind keine Beweise«. Ein Staatsanwalt erinnert an die Vorschriften und findet auf jeden konstruktiven Vorschlag eine Antwort aus dem Verschleppungs- und Vermeidungsarsenal der Bürokratie.
Früh ist damit das Thema gesetzt, was sich lohnt an der Arbeit, und ob man sich immer an die Regeln halten sollte. Diese Fragen sind auch im Corona-Lockdown noch ganz anders
aktuell.
Der Staatsanwalt spricht von Handlungsspielraum und jeder »Menge Aufstiegschancen«, Faber (Jörg Hartmann) von Menschenleben: »Früher oder später ist dann einer tot und dann müssen wir anrücken.«
Regeln behindern und sichern die Falschen ab, ist Fabers Antwort, und auch Nora Dalay (Aylin Tezel), die sich von der braven Assistentin immer mehr zu Fabers kritischer, aber im Ernstfall loyalen Tochter im Geiste entwickelt, aber auch wie Faber ihren Preis dafür bezahlt hat,
folgt ihm hier. Jetzt müsse man ermitteln.
Kurz darauf, vor dem Kaffeeautomaten, sagt Nora »Die Frau ist vielleicht ein Ansatz« und meint Juliane. Dieser Satz und der Blick, den Faber ihr dabei zuwirft, über den verständnislosen Kollegen hinweg, ist nicht nur der Anfang der folgenden Tragödie, sondern ein großer Filmmoment.
Die Familie Modica wird Terrorzusammenhang durch den Vierten, der jetzt mit am Tisch sitzt, den ungebetenen Gast (Emiliano de Martino), der Pippo heißt, und im Rucksack außer Drogen und einer Menge Geld auch eine Pistole hat. Er ist ein Eindringling, auch in die Gemüter. Mutter Juliane stößt er ab, aber Vater und Tochter manipuliert er wie ein Vorstadtmephisto. Man würde diesem Film im Kino vielleicht vorwerfen, dass es ein bisschen zu schnell und einfach geht mit Lucas Wandlung
zum Schutzgelderpresser, mit Julianes Einwilligung, als Polizeispitzel zu arbeiten. Hier ist das gerechtfertigt durch die Zeitvorgabe 89.30 Minuten und den Wunsch des Regisseurs, die Zeit in Atmosphäre, ins Zeigen des Polizeihandwerks und in prägnante Szenen zu investieren.
Es ist die richtige Entscheidung.
Batic und Leitmayr tauchen auch irgendwann auf, weil es anders nicht geht in diesem »Tatort«, zwei graugelockte Vorstadtcasanovas in T-Shirt und Lederjacke. Man mag sie, weil man sich kennt, und die Kommissare Veigl (Gustl Bayrhammer, Gott hab ihn selig!) und Helmut Lenz alias Monaco Franze schon vergessen hat, in den 29 Jahren, die die beiden im Dienst sind. Leitmayr und
Batic machen erst auf großer Max, wie der FC Bayern, wenn er in Dortmund ein Gastspiel hat, werden dann von Faber und seinem Team zu Kasperl und Seppl degradiert, gucken verwundert in eine BVB-Tasse, die sie am Ende aus Dortmund mitnehmen, und haben in ihrem ganzen gesetzten Zugucken und Dabeisitzen gegenüber der überambitionierten, wenn auch sympathischen Dortmunder Attitude am Ende irgendwie doch recht gehabt – wie allzu oft auch der FC Bayern. Aber es gibt ein Rückspiel, am
nächsten Sonntag.
Vorerst gilt nach diesem hervorragenden Film und seiner bitteren Geschichte der letzte Satz des Films: »Ich wär' jetzt gern allein.« Das kann manchmal ein Trost sein. Und manchmal auch nicht.
In der Familie (1) ist bis zum 28.05.2021 in der ARD-Mediathek abrufbar.