Deutschland 2024 · 94 min. · FSK: ab 0 Regie: Daniel Abma Drehbuch: Daniel Abma Kamera: Johannes Praus Schnitt: Jana Dugnus |
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Aufschlussreiche Einblicke... | ||
(Foto: Camino) |
Mehr als 200.000 Kinder und Jugendliche wachsen in Deutschland nicht in der eigenen Familie auf, sondern in Pflegefamilien und Wohngruppen. Um familiäre Defizite so gut wie möglich zu kompensieren und den Heranwachsenden Beistand und Geborgenheit vermitteln zu können, spinnen die Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe ein komplexes Netz aus Erzieher:innen, Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen und Vertretern von Jugendämter. Der Dokumentarfilm von Daniel Amba begleitet drei Erzieher:innen, die in einem abgelegenen Haus am See mit fünf Jungen zusammenwohnen, deren Eltern sich aus unterschiedlichen Gründen derzeit nicht um sie kümmern können.
Der aus den Niederlanden stammende Regisseur, sein Kameramann Johannes Praus und der Tonmeisterin Alexandra Praet begleiten die Wohngruppe ein Jahr lang. Dabei liegt ihr Augenmerk weniger auf den Fünf- bis 14-Jährigen als vielmehr auf den Erzieher/innen, die für Niklas, Kelvin, Colin, Jason und ein Ersatzheim schaffen und den Kontakt zu ihren Familien aufrechterhalten. Der Film lässt uns zugleich teilhaben am beherzten Engagement von Antje und Sören Wagner sowie Max Gerecke, die sich in vielen »Hilfeplangesprächen«, Sitzungen und Telefonaten, mit Elternteilen, Vormunden, Jugendämtern, Schulen und Psycholog/innen für das Wohl der Kinder einsetzen.
Es lässt sich nicht übersehen, dass der Film von einem Vertrauensverhältnis zwischen Filmschaffenden und der familiären Gemeinschaft geprägt ist. Der Regisseur und Wahlberliner besuchte die Wohngruppe 2018 zum ersten Mal und konnte während einer fünfjährigen Recherchephase offenkundig eine enge Beziehung zu ihr aufbauen. Großen Wert legte der studierte Grundschulpädagoge (Jahrgang 1978) in seinem vierten abendfüllenden Film auf einen Umgang auf Augenhöhe mit den minder- und volljährigen Protagonist/innen. Schon in seinen drei vorherigen abendfüllenden Dokumentarfilmen befasste sich Abma mit Menschen in schwierigen sozialen Situationen.
Die fünf Jungs erhalten nicht gleich viel Leinwandzeit. Abma konzentriert sich auf die »Fälle« von Niklas und Kelvin. Niklas will am liebsten zu seiner Mutter, die aber offenkundig überfordert ist. Der Vater ist bereit, den Jungen aufzunehmen, doch die Mutter beharrt auf ihrem Sorgerecht. So wird Niklas zum Spielball zwischen den Elternteilen und dem Jugendamt. Ein hartes Schicksal hat auch Kelvin ereilt. Als Sohn einer schwarzen Mutter aus Kamerun, die noch zwei jüngere Kinder versorgen muss, wird er in der Schule rassistisch gemobbt und fällt mit Aggressionen und Provokationen auf, auch in der Wohngruppe.
Abma gibt aufschlussreiche Einblicke in den Alltag der drei Betreuer:innen, die im Schichtdienst arbeiten. Wir sehen, wie sie kochen, waschen, einkaufen und die Kinder mit dem Kleinbus zur Schule karren. Wir sehen, wie sie trösten, kuscheln und Gute-Nacht-Geschichten vorlesen. Wir sind auch dabei, wenn die Gruppe im Wald Pilze sucht, einen Ausflug zu einer Straußenfarm macht oder sich am Seeufer nass spritzt. Der Film macht uns auch mit dem Selbstverständnis des Teams vertraut. Antje Wagner sagt gleich zu Beginn: »Wir sind nicht die Ersatzeltern, aber doch dieses familiäre Konstrukt irgendwie, ergänzend quasi.«
Wir werden auch Zeuge, wie geschickt der erfahrene Sören Wagner mit Wutausbrüchen oder Provokationen einiger Jungs umgehen kann, wie er ihnen das Gefühl, gehört zu werden, vermittelt, aber auch klare Grenzen setzt. So liegt es nahe, dass er den Neuling Max Gerecke in die Abläufe einweist. Max war zwölf Jahre Berufssoldat in der Bundeswehr und hat sich nun der Jugendpädagogik zugewandt. Mit seiner Empathie findet er schnell einen Weg, den Jungs bei der Selbstermächtigung unter die Arme zu greifen.
Zugleich scheut sich der Regisseur angesichts der dysfunktionalen Familienverhältnisse nicht, auch den Frust und die Hilflosigkeit der Betreuer:innen zu zeigen. Etwa wenn unzuverlässige Eltern den angekündigten Besuch platzen lassen, angeblich keine Zeit haben oder nicht ans Telefon gehen. Oder wenn der Klinikaufenthalt eines aggressiven Jungen die Lage eher verschlimmert, statt eine erhoffte Entspannung zu bringen.
Während der größte Teil der Aufnahmen dem Prinzip der teilnehmenden Beobachtung folgt, durchbrechen die Betreuer:innen gelegentlich die sogenannte fünfte Wand und sprechen in die Kamera, zum Beispiel wenn sie allein im Büro ihre »Dienstberichte« über die Ereignisse eines Tages erstellen.
Aufgelockert werden die Beobachtungen und Gespräche im und um das Wohnheim von ruhigen Impressionen der Landschaft ringsum. Die Kamera nimmt sich immer wieder Zeit, Windräder und
kreisende Vogelschwärme, das windbewegte Blattwerk von Bäumen, Getreiderollen auf den Feldern, die still Seefläche zu zeigen. Gleich mehrfach streift ein neugieriger Fuchs umher, traut sich sogar auf die Veranda des Hauses. Begleitet werden diese Einschübe meist von leisen Musikakzenten, die mal ins Heitere, mal ins Traurige tendieren.
Auf dem Filmfestival Dok Leipzig 2024 war Im Prinzip Familie der erfolgreichste Film: Er gewann den ver.di-Preis für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness, den film.land.sachsen-Preis für Filmkultur im ländlichen Raum und den »Gedanken-Aufschluss« Preis einer Jury von Strafgefangenen.