Kanada 2009 · 100 min. · FSK: ab 16 Regie: Xavier Dolan Drehbuch: Xavier Dolan Kamera: Stéphanie Anne Weber Biron Darsteller: Anne Dorval, Xavier Dolan, François Arnaud, Suzanne Clément, Patricia Tulasne u.a. |
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Der Regisseur als störrischer Teen |
Im Zimmer des jugendlichen Protagonisten Hubert Minel hängt ein Kinoplakat zu François Truffauts Debütfilm Sie küssten und sie schlugen ihn (Les quatre cents coups) aus dem Jahr 1959. Die Regisseure der französischen Nouvelle Vague sind zwar nur eines von vielen filmischen Vorbildern, die der kanadische Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler Xavier Dolan in seinem Erstling I Killed My Mother (J'ai tué ma mère) zitiert, doch die Verbindung zu Truffauts erstem Kinofilm ist der vielleicht interessanteste Querbezug: Hier wie dort rückt eine junge männliche Hauptfigur ins Zentrum, die ihren Platz in der Gesellschaft sucht; beide Debüts sprühen vor ästhetischer Kraft und stilistischen Experimenten; schließlich erlebten beide Filme ihre Uraufführung unter großem Zuspruch der Kritiker auf dem Filmfestival von Cannes.
In der Tat ist das viele Lob, das dem Frankokanadier Xavier Dolan zuteil wurde, durchaus berechtigt. Mit gerade einmal neunzehn Jahren inszenierte er I Killed My Mother, dessen Drehbuch er bereits zwei Jahre zuvor geschrieben hatte. Dem Drama merkt man das jugendliche Alter des Regisseurs jedoch keineswegs an, denn wenngleich I Killed My Mother eine für Erstlingswerke nicht untypische Coming-of-Age-Geschichte erzählt und reichlich
Zitate aus den Werken anderer Filmemacher und Künstler anbringt (wie Wong Kar-wai), so zeigt er doch eine eigene, äußerst vitale, visuell mitreißende Herangehensweise an Fragen der Inszenierung.
Die narrative Ebene behandelt die von Streitereien bestimmte Beziehung des 16-jährigen Hubert (Xavier Dolan) zu seiner Mutter Chantale (Anne Dorval), die er – das erzählt er bereits in der ersten Szene – leidenschaftlich hasst. Während Mutter und Sohn in Phasen der Annäherung
und Abstoßung umeinander kreisen, sucht Hubert Zuflucht bei seiner Liebe Antonin (François Arnaud) und der verständnisvollen Lehrerin Julie (Suzanne Clément).
Um I Killed My Mother zu beschreiben ist die kraftvolle Inszenierung der Geschichte jedoch von weit größerer Bedeutung als der Plot. Mit einer auffallend glücklichen Hand für Kino-Ästhetik spielt Xavier Dolan die Klaviatur des filmischen Erzählens mit Bravour: Bunte Farben und Schwarzweiß-Passagen, Experimente mit der zeitlichen Struktur des Films, hochgradig stilisierte Bilder (Kamera: Stéphanie Biron) und treffende bildliche oder narrative Metaphern
machen I Killed My Mother zu einem Film, der mit zunehmender Laufzeit eine immer stärker werdende Faszination beim Publikums erzwingt und inmitten teils allzu bemühter Programmkino-Dramen ein wahres Kleinod darstellt.
Kritisch zu betrachten ist lediglich der Umstand, dass die stilistische Raffinesse der bewegten Bilder, der elaborierte Einsatz der Musik zum Manierismus geraten, und so Gefahr laufen, die unkonventionell erzählte und dadurch eher im
Hintergrund wirkende Geschichte und die (nebenbei bemerkt: glänzend gespielten) Figuren ins Abseits zu drängen. Vor allem zu Beginn erscheint die Schieflage zwischen Inhalt und Form als Problem – spätestens in der zweiten Hälfte aber, und das macht I Killed My Mother tatsächlich zu einem großartigen Debüt, kann Dolan jedoch ein sanftes Mitgefühl für seine Figuren entwickeln. Selbst die Mutter, anfangs noch schmatzend und mit Essensresten im Mundwinkel
vorgeführt, durchlebt zum Ende hin eine Entwicklung zum ernstzunehmenden, respektierten Charakter.