Idioten

Idioterne

Dänemark 1998 · 114 min. · FSK: ab 16
Regie: Lars von Trier
Drehbuch:
Kamera: Lars von Trier
Darsteller: Bodil Joergensen, Jens Albinus, Anne Louise Hassing, Troels Lyby, Nicolaj Le Kaas u.a.

Die Nackten und Idioten

Der Schwur der Keusch­heit, Dogma 95: Ein Ablegen von Dingen, die Sicher­heit verleihen. Kein Königsweg zur Wahrheit, kein garan­tierter Zugewinn an Authen­ti­zität. Aber ein paradox befrei­endes Korsett – der Zwang, auf die gewohnten Lösungen zu verzichten.
Bei Thomas Vinter­berg in Festen (Das Fest) noch über weite Strecken einge­klinkt in ein System der Zeichen für »Heimvideo«, »Fami­li­en­fei­er­film«. Um der gerad­li­nigen Geschichte ein Gefühl der Echtheit, Unmit­tel­bar­keit zu geben.

Bei Lars von Triers Idioterne komple­xeres Spiel: Die Apparatur bleibt ständig im Bewußt­sein (als Fremd­körper im Geschehen, aber auch als seine Grund­be­din­gung: Nur für die Kamera wird agiert) – aufdring­lich forciert das ständige Wackeln der Hand­ka­mera; manchmal auch kommt das Filmteam selbst direkt ins Bild.

Inter­view­si­tua­tionen, aus dem Off die Stimme des Regis­seurs als Frage­steller; Aufbre­chen der Chro­no­logie: Im selben Moment, wo die impro­vi­sie­rende Dogma-Ästhetik uns ein Gefühl des Dabei­seins im authen­ti­schen Augen­blick gibt, führt uns Idioterne stets auch die Insze­niert­heit vor.
Es macht sie unbequem, unsere heiß­ge­liebte Rolle des Voyeurs.

Das Anziehen einer Rolle und das Ablegen von Kleidung:
Eine Gruppe von Leuten, die tun als wären sie Geis­tes­be­hin­derte sind Prot­ago­nisten von Idioterne. Auf der Suche nach ihrem »inneren Idioten« – vor allem aber nach der Freiheit, nicht Regeln der Gesell­schaft gehorchen zu müssen.
Das Leben ohne Regeln von außen (wenn es das wirklich ist) will ausge­halten sein. Wie selbst­ge­wählt sind jene neuen Zwänge, in die man sich begibt? Und wenn sie’s sind – machen sie freier, glück­li­cher? Ein Dogma-Thema, keine Frage.

Die Schau­spieler in Idioterne gehen an Grenzen, über­schreiten sie – geben sich preis. Oft nackt, wo zwangs­läufig der Körper des Charak­ters unmit­telbar der eigene ist. In einer Szene: fette Biker helfen dem vermeint­lich Behin­derten beim Pissen auf dem Knei­penklo; die Kamera hält auf’s Detail. In einer anderen: Geburts­tags­feier-Grup­pensex, es geht unleugbar echt zur Sache. Vieles ist nicht mehr als bloßes Spiel zu verorten.
Die Nacktheit oft auch eine seelische. Man ist gewiß, daß bei den Dreh­ar­beiten mehr passiert sein muß, als daß da Leute ihren Dreh­buch­text aufgesagt haben. Aber man ist nie sicher: Wo sind die Tränen, wo ist Lachen oder Wut echt, wo über­zeu­gend vorge­täuscht.

Wo wäre der Unter­schied? Müßten wir uns anders zu den Bildern verhalten, wenn wir wüßten, was in den Köpfen der Menschen auf der Leinwand tatsäch­lich vorge­gangen ist?

Das Sicher­heits­netz der Konven­tion: Eines verbindet fast immer den strom­li­ni­en­för­migsten Action-Block­buster mit der obskuren Blüte cine­as­ti­schen Under­grounds – beide legen uns deutlich dar, wo wir uns emotional zu verorten haben.
Idioterne ist eine Ausnahme. Stets schwan­kender Boden, vermintes Terrain. Schnell und unbe­re­chenbar schlägt er um – hemmungslos albern, zornig, beklem­mend, zärtlich und witzig und nüchtern innerhalb weniger Augen­blicke. Wir noch beim Lachen, wenn’s nichts mehr zum Lachen gibt; grundlos den Atem ange­halten, während der Film schon wieder licht und fröhlich ist.
Immer wieder das Gefühl des Ertappt­seins, Erschre­cken über die eigene Reaktion.
Der Film provo­ziert, viel und bewußt. Aber er macht es sich nicht leicht dabei. Idioterne hat keinerlei Respekt, aber Skrupel. Ein Film ohne die üblichen Siche­rungs­sys­teme. Und ohne fertige Antworten.
Auch uns macht es der Film nicht leicht. Wir müssen selber einen Platz finden, wo wir zu dem Gesehenen Stehen wollen.
Wovon er handelt, macht er uns letzlich auch zum Geschenk: Verant­wor­tung und Freiheit.

P.S.: Tun Sie sich einen Gefallen und schauen Sie sich diesen Film nicht in der Synchron­fas­sung an, die ein Skandal ist, sondern in der unter­ti­telten Fassung!

Mehr zum Dogma95 und den Dogma-Filmen gibt’s auf der offi­zi­ellen Website.