Österreich 2014 · 100 min. · FSK: ab 16 Regie: Veronika Franz, Severin Fiala Drehbuch: Veronika Franz, Severin Fiala Kamera: Martin Gschlacht Darsteller: Susanne Wuest, Lukas Schwarz, Elias Schwarz, Hans Escher, Elfriede Schatz u.a. |
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Stilsicher inszeniert, unter die Haut gehend |
Nach etwas mehr als einer Viertelstunde fällt bereits der entscheidende Satz, der den österreichischen Psychothriller Ich seh, ich seh schleichend in ein familiäres Schlachtfeld verwandelt: „Sie ist nicht unsere Mama!“ Diesen Verdacht hegen die Zwillinge Elias (Elias Schwarz) und Lukas (Lukas Schwarz), als ihre Mutter (Susanne Wuest) von einer Operation mit bandagiertem Gesicht zurückkehrt und einen ungewohnt rauen Ton anschlägt. Nichts ist zu spüren von ehrlicher Zuneigung und Wiedersehensfreude. Stattdessen herrscht sie ihre Söhne an, straft einen von ihnen mit besonderer Missachtung und fordert ständig absolute Ruhe ein. Verstärkt wird die feindselige Atmosphäre durch die sterile, unbehagliche Einrichtung des modernistischen Landhauses, in dem die Frau mit ihren Kindern lebt – offenkundig ohne den durchweg abwesenden Vater.
Einen Kontrast zur angespannten Lage innerhalb der Villa bilden, so scheint es, die sommerlichen Aufnahmen von Wald und Wiesen. Von unberührten Orten, an denen die Zwillinge umhertollen und nach Abenteuern Ausschau halten – ähnlich den jungen Protagonisten in Rob Reiners Coming-of-Age-Klassiker Stand by Me. Dank Martin Gschlachts vorzüglicher Kameraarbeit spürt man jedoch sehr schnell, dass die Unbeschwertheit nur vordergründig ist. Und dass Unheil in der Luft liegt. Immer wieder bewegen wir uns langsam hinter den Jungen her, was den Bildern eine traumwandlerische, fast schon surreale Qualität verleiht, die das Unbehagen steigert. Was genau geht hier vor sich? Und kann es wirklich sein, dass die Frau, die sich als Mutter vorstellt, in Wahrheit jemand anders ist?
Wahrnehmung und Identität sind die zentralen Themenkomplexe, die Veronika Franz und Severin Fiala – die Lebenspartnerin von Ulrich Seidl und dessen Neffe – in ihrem Spielfilmdebüt beleuchten. Ständig schauen wir mit den Figuren in Spiegel. Und recht früh werden wir Zeuge, wie die Mutter mit den Zwillingen das Spiel „Wer bin ich?“ spielt und an der eigentlich leichten Aufgabe scheitert, sich selbst zu erraten. Ein Moment, der erste Zweifel sät und die beiden Jungen später bestärken wird, die vermeintliche Doppelgängerin zu enttarnen.
Dominiert zunächst eine Bedrohung, die schwer zu fassen ist, greifen Franz und Fiala mit zunehmender Dauer auf etablierte Motive des Horrorfilms zurück. Ein riesiger Käfer verschwindet im Mund der Mutter. Albträume legen Angst- und Gewaltfantasien offen. Und irgendwann sehen wir uns mit einem buchstäblich qualvollen „Verhör“ konfrontiert, das einige drastische Bilder bereithält und selbst Genre-erprobte Zuschauer verstören dürfte. Nicht zuletzt, weil hier zwei Kinder, denen anfangs unsere Sympathien galten, zu erbarmungslosen Inquisitoren mutieren. Das Konzept der heilen Welt, das ein Filmausschnitt der singenden Trapp-Familie schon zu Beginn ironisch kommentiert, ist damit endgültig passé.
Am Ende dieses stilsicher inszenierten, unter die Haut gehenden Debütwerks steht eine aus anderen Thriller- und Horrorfilmen bekannte Offenbarung, die auch deshalb durchschaubar ist, weil sie sich in der Art und Weise des Szenenaufbaus ankündigt. Gleichwohl hat die Enthüllung eine erschütternde Wirkung, da unter der Oberfläche ein familiäres Trauma zum Vorschein kommt. Ich seh, ich seh entwirft ein Schreckensszenario, das gerade deutschen Filmemachern vor Augen führt, wie düstere Kinostoffe mit eigenen Ideen und untrüglichem Genre-Gespür aussehen sollten. Spannend ist in diesem Fall auch die Entstehung selbst. Schließlich wussten die Darsteller während der Dreharbeiten nicht, wie die Geschichte weitergehen würde, was dem abgründigen Geschehen nur noch mehr Intensität verleiht.
Es beginnt mit einem Bild, das perfekte Idylle wachrufen soll, und doch auch abgründig wirken muss: Die »Trapp-Familie« singt »Guten Abend, gute Nacht«, ein spätromantisches Wiegenlied, das vom Hauch des Todes durchzogen ist. Es folgen gleich darauf prächtige atmosphärische Augenblicke: Die Kamera gleitet durch ein Kornfeld, zunächst sieht man niemanden, ahnt nur Präsenz. Dann taucht ein etwa zehnjähriger Junge auf und dann, sehr unvermittelt ein zweiter, identischer. Zwillingsbrüder offensichtlich. Sie nennen einander Lukas und Elias und spielen ein Spiel. Ein Sommernachmittag in der österreichischen Provinz, ein isoliert gelegenes modernistischer Bungalow, der Wald und ein See liegen nahe, die Nachbarn sind fern. Als die Jungen irgendwann zurück in das Haus kommen, wo sie mit ihrer Mutter wohnen, verliert die Atmosphäre ihren paradiesischen Charakter. Nicht allein, das sich die Mutter kühl und streng verhält, und Lukas – vielleicht zur Strafe? – komplett ignoriert; ihr Kopf ist nach einer Schönheitsoperation auch vollständig bandagiert, nur die Augen blicken durch Löcher im weißem Stoff. Dieses Bild, das jeden Kenner der Filmgeschichte sofort an Georges Franjus »Augen ohne Gesicht« erinnern wird, markiert früh das Genre dieses Films: Psychohorror, freilich in seiner europäischen – also zurückgenommenen – Variante. Bildsprache und Erzählweise erinnern in ihrer kühlen Strenge und beklemmenden, keinen Exzess duldenden Präzision an Michael Haneke und Jessica Hausner, nicht nur, weil man weiß, dass der Film aus Österreich kommt, während die Information, dass Veronika Franz die Lebensgefährtin und Co-Autorin von Ulrich Seidl ist, Severin Fiala dessen Neffe, zur Entschlüsselung des Films kaum beiträgt.
An Haneke Funny Games muss man hingegen häufig denken: Denn auch Ich seh, ich seh bedient sich der Form der Kinderspiele und ihrer Rituale. »Ich sehe was, was Du nicht siehst« lautet hier der Name des Spiels, das gespielt wird – von den Hauptfiguren miteinander und mit den wenigen anderen Personen, die hier noch auftauchen, sowie von den Filmemachern mit ihren Zuschauern. Und wie Funny Games erzählt auch Ich seh, ich seh gewissermaßen die Geschichte vom Eindringen des Bösen in vermeintliche Sicherheiten bürgerlichen Lebens, in eine Familie. Nur das hier das Böse aus der Familie selber kommt, der Eindringling immer schon drin und die Familie womöglich selbst das Böse ist.
Denn bereits kurz nach dem Beginn ist die Beklemmung und gegenseitige Repression zwischen den drei Hauptfiguren (der Vater ist aus unklaren Gründen abwesend) ständig präsent, und bald beginnt eine Höllenfahrt mit vorhersehbar schrecklichem Ausgang. Ihre äußerliche Ursache ist der Verband der Mutter. Weil ihr Gesicht nicht erkennbar ist, weil zudem ein markantes Muttermal entfernt wurde, zweifeln die Söhne zunehmend daran, ob es sich überhaupt um die Mutter handelt. Diese Zweifel lassen auch den Betrachter nicht unberührt. Es gibt Indizien dafür, dass die Kinder recht haben. Zudem ist die Inszenierung geschickt so gehalten, dass man nach einer Weile auch daran zweifeln darf, ob Lukas überhaupt existiert, oder ob es sich bei ihm nicht vielleicht um eine Kinderspielphantasie handelt, oder um die imaginäre Wiederkehr eines Toten oder um die Abspaltung eines Teils einer schwer gestörten Kinderpsyche, das als Verdrängtes wiederkehrt.
Dass er all dies so vage im Möglichen hält, mögen manche diesem Spielfilmdebüt, vorwerfen – es entspricht aber der Alptraumlogik des Werks und ist die Voraussetzung, um den Suspense kunstvoll bis zum Schluss immer weiter zu steigern, flankiert von einem ebenfalls immer mehr in den Film eindringenden, erschütternden »Body Horror« in bester Cronenbergscher Manier. Ich seh, ich seh ist, wie man so sagt, kein Film für schwache Nerven, noch weniger für schwache Mägen. Wer aber die nötige Konstitution mitbringt, die Liebe zu philosophisch grundierten surrealen Vexierspielen und neoromantischen Identitätsdekonstruktionen, der kann hier einen der elegantesten und trotz kleiner Mängel besten europäischen Horrorfilme der letzten Jahre bewundern.