Helmut Newton – The Bad and the Beautiful

Deutschland 2020 · 93 min. · FSK: ab 0
Regie: Gero von Boehm
Drehbuch:
Kamera: Marcus Winterbauer, Pierre Nativel, Alexander Hein, Sven Jakob-Engelmann
Schnitt: Tom Weichenhain
Gender-Crosser, nur falsch verstanden ein Macho
(Foto: Helmut Newton Estate / Filmwelt)

»Habt euch doch nicht so!«

Gero von Boehms schöner Dokumentarfilm über Helmut Newton erinnert an eine leider vergessene Zeit: die Epoche eines unbeschwerten Hedonismus

»Mich inter­es­siert das Gesicht. Der Busen. Die Beine. Das sieht man hoffent­lich auf meinen Fotos. Ich hoffe, man sieht noch etwas mehr – aber Seele? Versteh' ich nicht.«
Helmut Newton

Er trug Blümchen-Hemden, lächelte viel, war immer gut gebräunt, und offen­kundig genoss er das Leben. Für große Teile der Kultur­kritik der 70er Jahre war dieser Mann viel zu gut gelaunt. Und viel zu hedo­nis­tisch. Und viel zu wenig daran inter­es­siert, was die anderen über ihn dachten: »Das, was die Leute sagen: Wenn’s dir nicht gefällt, ist mir voll­kommen schnuppe. Solange es mir gefällt.«

Teile der Kritik beschimpften ihn dafür als egois­tisch, narziss­tisch, ästhe­ti­zis­tisch, ober­fläch­lich. Was sie nicht verstanden: Er war genau das. Zugleich war er aber viel mehr. Und genau mit dieser Kombi­na­tion war er einer der größten Foto­künstler seiner Zeit.

Eine Frau, die in ein Krokodil hinein­kriecht – ist das pervers? Ist das erotisch? Ist das ein Sexobjekt? Ist das eine starke Frau? Es sind solche Fragen, die den faszi­nie­renden Doku­men­tar­film von Gero von Böhm antreiben.

Dieser Film geht weit über das hinaus, was übliche Doku­men­tar­filme tun, denn weder weiß er von Anfang an, was er denkt, verur­teilt oder lobpreist, noch beschränkt er sich darauf – was immerhin schon besser wäre, aber noch lange nicht genug – einfach nur zu zeigen. Nein: Dieser Film stellt Fragen, und er stellt seinen Fragen Fragen. Er entfes­selt damit einen ganzen Asso­zia­ti­ons­raum.

Das liegt auch an seinem Objekt. Denn es ist ein Objekt, das uns heute provo­ziert, das dem heutigen Zeitgeist komplett zuwi­der­läuft. Und das gleich­zeitig von diesem Zeitgeist nicht so einfach in einen seiner vielen geistigen Setz­kästen einzu­ordnen und abzu­schließen ist.
Das hatte in den 90er Jahren schon einmal Alice Schwarzer versucht, und die Heraus­ge­berin der Zeit­schrift »Emma« ist damit kläglich geschei­tert, nicht nur vor Gericht, sondern sogar in der links-alter­na­tiven »taz«, denn Schwarzer begnügte sich nicht mit den üblichen, schon damals billigen Vorwürfen – Sexismus, Rassismus –, sondern besaß die Geschmack­lo­sig­keit, dem 1938 gerade noch der Ermordung entkom­menen Ex-Berliner Juden Faschismus vorzu­werfen.

Im Doku­men­tar­film von Gero von Boehm berichten nun zehn berühmte Frauen, die von Helmut Newton abge­lichtet wurden, von ihren Erfah­rungen vor Newtons Kamera.

Mit dabei ist Charlotte Rampling. Isabella Rossel­lini erklärt, die Bilder seien erschre­ckend und beängs­ti­gend gewesen, aber es habe immer einen humor­vollen Aspekt in ihnen gegeben. Natürlich habe er Frauen auch als Sexu­al­ob­jekte gesehen – aber warum auch nicht?

»Man kann natürlich sagen: das ist sexis­tisch. Man kann aber auch sagen, er hält der Gesell­schaft einen Spiegel vor.« Das meint hierzu Nadja Auermann.

Frauen bei Helmut Newton sind immer stark. Sie sind immer provo­kativ. Sie haben immer das Kommando.
»Ich habe die Situation beherrscht. Ich war nicht das Objekt, ich war dem Foto­grafen gleich­ge­stellt. Ich konnte entscheiden, was ich tun wollte. Die Welt braucht Provo­ka­tion als eine stimu­lie­rende Kraft«, sagt Charlotte Rampling.

Damit ist dieser Film, so wie schon die Foto­gra­fien Newtons auch, ein Statement gegen allzu einfache Wahr­heiten: Was denn Sexismus ist? Wo Sexismus anfängt und aufhört? Was Miss­brauch ist und was große Kunst?
Es ist ein Plädoyer für die Freiheit der Kunst, für die Freiheit zur Gren­zü­ber­schrei­tung, zur Provo­ka­tion, zur Verlet­zung von Empfind­lich­keiten. Ja, es ist ein Plädoyer gegen allzu große Empfind­lich­keit – tatsäch­lich sagt dieser Film: »Habt euch doch nicht so.« Aber sagt dies nicht zu Frauen, sondern zu den Männern genauso. Er sagt dies zu uns allen.

Dieser Film zeigt übrigens auch, dass Helmut Newton weit mehr ist als nur ein Fotograf von unbe­klei­deten Frauen. Er foto­gra­fierte nämlich auch unbe­klei­dete Männer, beklei­dete Frauen, er foto­gra­fierte Hühnchen in High Heels, Autos, Land­schaften – heute sieht man darin den Zeitgeist der 70er und 80er Jahre. Man sieht eine Zeit, die vergangen ist, und man hat den Eindruck, dass die Tatsache, dass sie vergangen ist, in mancher Hinsicht auch sehr traurig ist.

Es war die Epoche eines unbe­schwerten Hedo­nismus. Eine Zeit, in der es um Politik ging, nicht um Moral; um Kunst, nicht um Anstand; um Haltung, nicht ums Ange­passt­sein an den Zeitgeist. Dies alles zumindest hat die Zeit Helmut Newtons uns voraus.

Starke Frauen

Frauen mit Krücken und mit seltsamen Stütz­ap­pa­ra­turen, Frauen mit Messern und Pistolen, eine Frau, die mit einem Pfer­de­sattel auf dem Rücken auf einem Bett kniet, eine Frau mit Zigarre und Monokel, eine Frau mit ellen­langen Leder­hand­schuhen und Verschnü­rungen über ihren Brüsten, eine Frau im Rollstuhl und eine Frau mit einem abge­trennten Bein: Die Fotos von Helmut Newton erschaffen einen ganz eigenen bizarren Bilder­kosmos.

Zu Beginn von Helmut Newton – The Bad And The Beautiful sagt der Regisseur Gero von Boehm, dass die meisten Foto­grafen fürch­ter­lich lang­wei­lige Menschen sind und dass die Filme, die er über Foto­grafen gesehen hat, ebenfalls fürch­ter­lich lang­weilig sind. Sie würden den Rücken des Foto­grafen zeigen. Man höre das Klicken der Kamera und das dumme Gerede des Foto­grafen mit dem Model.

Nach so einer Ansage kann man erwarten, dass Gero von Boehm in seiner Doku­men­ta­tion über den deutschen Foto­grafen Helmut Newton einiges anders machen wird. Und tatsäch­lich ist Helmut Newton: The Bad and the Beautiful deutlich inno­va­tiver als die meisten Doku­men­ta­tionen – nicht nur über Foto­grafen. Anstatt Stand­bilder, Archiv­ma­te­rial und spre­chende Köpfe anein­an­der­zu­reihen, etabliert Gero von Boehm einen Dialog zwischen den Fotos von Helmut Newton und den abge­lich­teten Models.

Zu letzteren zählen neben zahl­rei­chen Foto­mo­dels auch die Film­schau­spie­le­rinnen Charlotte Rampling, Isabella Rossel­lini und Hanna Schygulla. Sie berichten fast alle davon, wie frei sie sich bei den Foto­auf­nahmen fühlten. Verdäch­ti­gungen von Sexismus und Rassismus werden deutlich abge­wiesen. Helmut Newton habe es stets geschafft, dass sie sich bei den Aktauf­nahmen sehr wohl mit sich selber fühlten, erzählen sie.

Die erste Hälfte von Helmut Newton: The Bad and the Beautiful widmet sich ausschließ­lich diesem Dialog. Gero von Boehm schneidet immer wieder zwischen Fotos und den Inter­view­szenen hin und her. Er unterlegt die Aufnahmen Newtons mit den Kommen­taren der Models, er zeigt die Dreh­ar­beiten und präsen­tiert eine lange Serie von Einzel­auf­nahmen, in der das eine, am Ende vom Foto­grafen ausge­wählte Bild farblich markiert ist.

Unterlegt wird unter anderem mit der Musik von The Cure und Grace Jones. Dabei tritt der Fotograf selbst kaum in Erschei­nung. So entsteht ein leben­diger Dialog zwischen den Fotos und den Abge­bil­deten, bei dem der Bilder­kosmos des Foto­künst­lers zum Leben erwacht. Dabei hätte sich Helmut Newton selbst niemals als Künstler bezeichnet. Er sagte: »In der Foto­grafie gibt es zwei schmut­zige Wörter. Das eine ist Kunst und das andere ist guter Geschmack.«

Erst in der zweiten Hälfte von Helmut Newton: The Bad and the Beautiful zeigt der Film auch zeit­ge­schicht­li­ches Archiv­ma­te­rial und Aufnahmen jenseits der Foto­shoo­tings. Wir sehen Berlin zu Zeiten der NS-Diktatur. Helmut Newton hat sehr gute Erin­ne­rungen an seine Kindheit und Jugend in Berlin, obwohl er ein Jude war. Er ließ sich nicht davon abschre­cken, dass am Eingang zum Freibad ein Schild stand, auf dem »Zutritt für Hunde und Juden verboten« stand, erinnert er sich. Voller Entzücken berichtet Helmut Newton auch von den zwei Jahren, als er bei der Foto­grafin Yva sein Handwerk lernte. Sie, eine Jüdin, wurde wahr­schein­lich 1942 in einem Konzen­tra­ti­ons­lager ermordet.

Isabella Rossel­lini erzählt davon, wie stark der Einfluss von Leni Riefen­stahl auf Helmut Newton war. Die von ihr insze­nierten athle­ti­schen männ­li­chen Körper habe der Fotograf auf die Insze­nie­rung von starken Frauen über­tragen. Helmut Newton spricht selbst von dem Einfluss, den die ihn damals umge­benden Bilder auf die Entwick­lung seiner eigenen Foto­grafie hatten.

In der zweiten Film­hälfte gerät auch Helmut Newtons Frau June immer stärker in den Fokus. Sie war seit den Anfängen seiner Karriere in Austra­lien seine lebens­lange Beglei­terin und hatte auch an der Entste­hung seiner Bilder einen regen Anteil. Als Helmut Newton für die fran­zö­si­sche »Vogue Homme« Aufnahmen von Männern in Trench­coats machen sollte, foto­gra­fierte sich der Berliner selbst im Trench­coat, während er ein weib­li­ches Model foto­gra­fierte und June dabei saß und die Aufnahmen verfolgte.

Obwohl Helmut Newton so abschätzig von Kunst und gutem Geschmack im Zusam­men­hang mit Foto­grafie redet, sind seine Bilder ebenso geschmack­voll wie sie die Foto­grafie zu einer hohen Kunst erheben. Beides kann der Zuschauer in Helmut Newton: The Bad and the Beautiful genau­es­tens studieren.