Das Herz ist ein dunkler Wald

Deutschland 2007 · 86 min. · FSK: ab 12
Regie: Nicolette Krebitz
Drehbuch:
Kamera: Bella Halben
Darsteller: Nina Hoss, Devid Striesow, Franziska Petri, Monica Bleibtreu u.a.
Porträt einer Wahrnehmungsstörung

Die Tragödie nimmt den Linienbus

»Mami!« ruft eine Kinder­stimme aus dem Off, das erste Wort das man hört, ein Augenpaar in Groß­auf­nahme geht auf – und der Film beginnt wie so viele deutsche Filme als eine in der Mittel­klasse ange­sie­delte Paar­ge­schichte. Es gibt zwei Kinder und eine spürbar leicht abge­nutzte Ehe. Aber der Irri­ta­tionen sind es viele, schon zu Beginn: Marie (Nina Hoss) geht ein bisschen wie eine Schlaf­wand­lerin durch den Bungalow; ihr Gatte Thomas (Devid Striesow) schläft auf dem Sofa wie einer, der hier nicht richtig hingehört; nur die Kinder sind quick­le­bendig.

Auch die Kamera und der Schnitt zeigen sich schlaf­trunken, schief, irgendwie ver-rückt sind die Einstel­lungen und Perspek­tiven der hervor­ra­genden Bilder Bella Halbens, Desori­en­tie­rung signa­li­sie­rend. Ein Ei zerbricht, »Humpty Dumpty« fällt einem ein, und schon bald nehmen die latenten Gefühle Maries und der Zuschauer, irgend­etwas stimme hier nicht, konkrete Gestalt an, und wir begreifen, dass Thomas noch eine zweite Familie hat. »Humpty Dumpty«, genau, »had a great fall«, und dann »couldn’t put Humpty Dumpty together again«.

Glänzend insze­niert Regis­seurin Nicolette Krebitz diese ersten Minuten, ober­fläch­lich betrachtet im Grenz­ge­biet zwischen Berliner Schule und Kleinem Fern­seh­spiel, aber bei genauer Betrach­tung unglaub­lich originell, virtuos und dabei souverän in ihren Mitteln: Ein kurzer Split­screen paral­le­li­siert Marie und Thomas wie einst Doris Day und Rock Hudson in Bett­ge­flüster, eine kurze Anima­ti­ons­se­quenz erklärt, warum Marie mit dem Fahrrad ihren Mann im Auto einholen kann – per Abkürzung durch den Hamburger Stadtpark –, und die nur in Gedanken ausge­tra­genen Ehekräche, das Unbe­wusste, Unaus­ge­spro­chene dieser Beziehung wird in Form kurzer, fast abstrakt gehal­tener Bühnen­szenen visua­li­siert – denn auch in einer Part­ner­schaft ist manches »part of the act« – aber das geschieht nie aufdring­lich, und kaum einer dieser kurzen, wohlüber­legten Stil­brüche wird wieder­holt. Wie bei einem Advent­ka­lender öffnet die Regis­seurin nur kurz ein Türchen in ein anderes Kinoreich, und beweist ihren filmi­schen Möglich­keits­sinn.

Schon der Titel von Nicolette Krebitz' neuer Regie­ar­beit, dem zweiten Film nach dem Chillout-Werk Jeans aus dem »Bauch« der Berliner Mitte, signa­li­siert eine völlig andere Tonlage: Das Herz ist ein dunkler Wald beginnt zwar als kühles Realismus-Drama, doch mit dem Gemüt der Haupt­figur verändern sich Story wie Stil, wenden sich ins Surreale, in dunkle Romantik – Krebitz knüpft auf ihre Art zwar an »typisch deutsche« Tradi­tionen an, jedoch im Konkreten nie in altmo­di­scher Weise. Es sind geis­ter­haft atem­be­rau­bende und zugleich immer gegen­wär­tige Bilder, die einem hier präsen­tiert werden, ein seltsam vertrauter, sich geschmeidig anschlei­chender Horror. Die Tragödie nimmt den Linienbus.

Zugleich arbeitet der Film geschickt mit Déjà Vues, darüber hinaus mit zahl­rei­chen Verweisen auf Film- und Kultur­ge­schichte. Die Traum­no­velle einer Gren­züber­schrei­tung. Wie Adam vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist auch für Marie durch den Schock der zusam­men­ge­bro­chenen Ehe die Welt buchs­täb­lich eine andere geworden, voll von Versu­chung, Albtraum und Paranoia. Weil hinter Privatem immer auch allge­meine Zustände aufblitzen, ist dieses Portrait einer Wahr­neh­mungs­stö­rung auch Milieu­ana­lyse und mora­li­sche Anklage bundes­re­pu­bli­ka­ni­scher Dekadenz. Dabei zeigt Krebitz nebenbei, was übrig bleibt, wenn alle Masken fallen.

Ein Film über das-Augen-öffnen, das Aufwachen, einen Prozeß des Erwach­sens, der auch einer der Befreiung ist. Das Herz ist ein dunkler Wald ist eine Art Tagtraum – das wird sogar thema­ti­siert, aber skeptisch: »Nie fragt man sich im Traum: Hab ich das geträumt«, heißt es einmal, wobei die Aussage als solche Zweifel weckt. Man fragt das nämlich schon im Traum Ein modernes Märchen für Erwach­sene also, oder auch – je nach Sicht­weise – die Innen­an­sicht eines Nerven­zu­sam­men­bruchs; fraglos inter­pre­tierbar als filmische Studie über Hysterie, und der kurze Callas-Ausschnitt stützt auch das, aber dies hält nichts vom Leib, denn genauso funk­tio­niert der Film auch als Stück Sozio­logie der Geschlech­ter­ver­hält­nisse und -rollen, eine Bestands­auf­nahme. Es gibt schöne Momente kurzer prak­ti­scher Frau­en­so­li­da­rität, vor allem Monika Bleibtreu ist groß in einem Moment, als sie an einem Küchen­tisch sitzt.
Es muss ja nicht immer Mutter­liebe sein, was von einer Mutter auf der Leinwand gezeigt wird. Und das ist hier sehr angenehm. Die ätzende Nüch­tern­heit, mit der diese Marie ihren Kindern antwortet, als der Papa am Telefon einen gemein­samen Urlaub vorschlägt: »Und? Glaubst Du das?« Sie spiegelt sich in der Figur ihres Vaters, der zwar an Marie vorbei­redet, aber auf deren Situation trotzdem treffend antwortet: »Ich habe Dir immer gesagt: Der ist ein Nichts­nutz.«

Die ernüch­ternde Bilanz dieser modernen Ehe lässt nur ein Resultat zu: Insolvenz. Die Liebe ist vergangen und kommt nicht wieder. Das Lied I’m done with you ertönt aus dem Off und der letzte Akt beginnt.
Mit anderen Worten: Es ist wie in einem Text von Kafka oder Lewis Carrol ganz und gar eine Frage der Inter­pre­ta­tion, was hier genau passiert, und warum, wie »real« alles überhaupt ist. Aber zusam­men­ge­nommen erzählt der Film eine moderne Version des klas­si­schen Medea-Stoffes. Hoss, gerade gefeierte Berliner Bühnen-Medea, spielt das intensiv und wie Striesow in span­nendem Kontrast zu beider weitaus kühlerem Auftritt in Christian Petzolds Yella. Der verhält sich zu dieser Gothic Tale wie ein dekon­struk­ti­vis­ti­scher Essay.

Nicolette Krebitz kann viel, sehr viel. Sie hat einen großen Sinn für Musik (von Mitte-Pop bis Beethoven) und für Musi­ka­lität der Bilder. Sie hat Sinn für Kunst. Ihr gelingt viel in der Schau­spie­l­er­füh­rung, ange­fangen mit der exzel­lenten Darstel­lerin von Nina Hoss' kleiner Tochter – solche wunder­baren Kinder­szenen sieht man selten – über Bleibtreu, Otto Sander, Günter Maria Halmer bis hin zu Nina Hoss selber. (Sowieso ein eigenes Thema sind Nina Hoss und ihre Rollen: immer wieder Tote, Untote, Gespenster, Trauernde, Träumende, Verstörte – »Border­line-Exis­tenzen in einer Border­line-Gesell­schaft«, wie es mal einer treffend genannt hat. So auch hier, aber nie hat man das Gefühl, man kennt diese Frau schon, die da auf der Leinwand ist. Hoss ist einst­weilen nicht eine, die etwas aus ihren früheren Rollen mit in die nächste nimmt. Alles scheint möglich.)
Besonders bemer­kens­wert ist Krebitz' Talent, die Dinge im Unge­fähren zu lassen. Das ist eben keine Schwäche, wie die kleinen Junges unter unseren Groß­re­gis­seuren und Groß­pro­du­zenten es dann gern schnell behaupten, sondern ein Talent.

Weit weg von allen typisch deutschen »Event-Movies«, wie von der »Berliner Schule« ist Krebitz ein ganz und gar eigener Ton geglückt: Das Herz ist ein dunkler Wald verbindet Fass­bin­ders Film­por­traits bürger­li­cher Frauen, Kubricks Eyes Wide Shut und Szenen eines 70er-Jahre-B-Movies. Ein bitterer, dabei schöner Film über den Kampf der Geschlechter, eine Unter­su­chung über das deutsche Lumpen­bür­gertum und seine leicht ranzige Moral, und die Dekon­struk­tion all der schönen Ideen von »neuer Mütter­lich­keit« und des »Popkram«, der die Literatur und den Jour­na­lismus des letzten Jahr­zehnts (und Krebitz' Jeans) dominiert hat. Jeden­falls ein großar­tiger, span­nender Film, mit dem sich Krebitz in die erste Reihe unter den Filme­ma­chern ihrer Gene­ra­tion kata­pul­tiert.
Mehrfach noch schlägt Marie in diesem Film wie zu Beginn in Groß­auf­nahme die Augen auf – Bilder, die neben dem Erwachen auch signa­li­sieren, alles könnte ein (böser) Traum sein. Ihr jeden­falls möchte man das wünschen.

Nachklapp:
Der geschätzte Ulrich Kriest, einer der besten Kenner des deutschen Kinos, schreibt in seiner – prin­zi­piell wohl­wol­lenden – Film­dienst-Rezension: »Man kann Das Herz ist ein dunkler Wald über­spannt und ange­strengt finden. Insbe­son­dere, wenn man sich in Krebitz so erfri­schend luftigen Jeans ausge­spro­chen wohl gefühlt hat«
Kann man natürlich. Aber mir ging’s so: Ich hab mich in Jeans sauwohl gefühlt, und finde Das Herz einen um einiges besseren Film. Weil noch mutiger, span­nender. Und ich finde es immer falsch, einem Autor implizit vorzu­halten, früher habe er doch andere Filme gemacht.