Schweiz/D 2015 · 100 min. · FSK: ab 12 Regie: Jan Gassmann, Michael Krummenacher, Lisa Blatter, Gregor Frei, Benny Jaberg, Carmen Jaquier u.a. Drehbuch: Jonas Meier, Tobias Nölle, Lionel Rupp, Mike Scheiwiller, Michèle Wannaz u.a. Kamera: Simon Guy Fässler, Denis Lüthi, Gaetan Varone Darsteller: Luna Arzoni, Nicolas Bachmann, Egon Betschart, Soumeya Ferro-Luzzi, Morgane Ferru u.a. |
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Das Schweizer Kreuz als kollektives Klebepflaster |
»Was woll'n denn die alle da?« – Es ist ein in seiner Langeweile routinierter Blick, den der Supermarktleiter zunächst in die Überwachungskamera seines kleinen Shopping-Paradieses wirft. Doch plötzlich versteht er die Welt nicht mehr. Die reichen, wohlsituierten, perfekt abgesicherten Schweizer packen sich panisch die Taschen voll, unternehmen Hamsterkäufe, und schneller, als er glauben kann, ist der Laden quasi leergekauft. Was ist geschehen? Eine mysteriöse dunkle Wolke hat sich über der Schweiz zusammengezogen – nun droht eine schreckliche Naturkatastrophe, mit monströsen Orkanen und ähnlichem.
Angesichts dieser Gefahr bricht plötzlich all das aus, was in dieser Wohlstandsgesellschaft unter der Oberfläche gärt: Wirtschaftliche und soziale Ungleichheit, fehlende Rechtsstaatlichkeit und Demokratie trotz zur Schau getragener demokratischer Formsprache, und eine allgemeine Angst-Hysterie, die Gefahren nicht korrekt einschätzen kann, der Wahn von der perfekten Sicherheit durch mehr Überwachung, mehr Polizei, weniger Bürgerfreiheit.
Es kommt zu Plünderungen,
Politiker und gekaufte Experten wiegeln ab, Rechtspopulisten und religiöse Fanatiker nutzen die prekäre Lage aus, und zunehmend bricht die vermeintlich so perfekte Schweizer Ordnung in Fanatismus und Resignation zusammen und das Chaos aus.
Nun versuchen viele Schweizer in die Nachbarländer zu fliehen – aber die EU hat die Grenzen geschlossen, und lässt die Schweizer Flüchtlinge nicht rein!
Der Schweizer Film Heimatland schildert nuanciert und engagiert die letzten fünf Tage des Landes: Notstand, wohin man schaut. Man lernt Menschen kennen, wie Rosi, die ihre eigene Realität bastelt, indem sie einfach ihr Fenster zu- und die Katastrophe aussperrt. Wie Goran und Peter, die vergeblich versuchen, außer Landes zu kommen. Polizistin Sandra findet Zuflucht in ihrem eigenen emotionalen Wirbelsturm. Andere feiern religiös beseelt ekstatisch die kommende Apokalypse. Für einige wenige Reiche bieten die Versicherungs-Unternehmen Not-Unterkünfte – alle anderen müssen sich selbst in Sicherheit bringen. Aber, falls sie überleben: welche Zukunft könnte auf sie warten?
Heimatland entstand vor der aktuellen Zuspitzung der Flüchtlingszüge. Er war gemeint als ironische Selbst-Kritik aus Schweizer Perspektive, mit der die restriktive Flüchtlings- und Ausweisungspolitik des Landes ad absurdum geführt werden sollte. Doch im letzten Jahr hat sich alles ironisch umgekehrt: Plötzlich sind die Schweizer die Liberalen, und tatsächlich machen die EU-Europäer mit herzlos-restriktiven Grenzschließungen von sich reden.
Heimat – das klingt gemütlich, kann aber schnell zu einem fragwürdigen, Kritik verdienenden Ort werden. Vor drei Jahren zogen nicht weniger als zehn Schweizer Filmemacher aus, um ihrer Heimat auf den Zahn zu fühlen – mit einem bewußt irrealen, bewußt provokativen politischen Science-Fiction-Film. Doch in Zeiten von Flüchtlingsmassen, Rechtspopulismus und geschlossenen Grenzen ist die Fiktion von der Realität eingeholt worden.
Dieser Film ist, man merkt es, ein großer Wurf: Heimatland ist an seiner Oberfläche ein satirischer Film, der immer wieder Situationen auf die Leinwand bringt, die zum Lachen, Schmunzeln, Kopfschütteln oder ungläubigem Staunen reizen.
In seinem innersten Kern aber ist dies harte Gesellschaftskritik: Ein bizarres Szenario voller ironischer Pointen, die unerwartete Kreuzung zwischen aufgeklärtem Heimatfilm und politischer Science-Fiction – und
irgendwie immer noch, wie gesagt, eine Satire.
Stilistisch und in seiner Machart ist Heimatland ein gewagtes Experiment: Denn mit zehn Regisseuren und drei Kameraleuten die für die verschiedenen Episoden verantwortlich zeichnen, die dann von einem Cutter zusammenmontiert wurden. So wirkt der Film in Stil und Look, aber auch inhaltlich wie aus einem Guss. Überdies ist er optisch brillant – eine wunderbare, düstere Groteske.