Der Helsinki Effekt

The Helsinki Effect

Finnland 2025 · 93 min. · FSK: ab 6
Regie: Arthur Franck
Drehbuch:
Musik: Patrik Andrén, Uno Helmersson
Schnitt: Markus Leppälä, Arthur Franck
Der Helsinki Effekt
Ein außergewöhnlich origineller Dokumentarfilm...
(Foto: Rise and Shine Cinema)

»Kekkonen trinkt unglaublich viel Kaffee«

Anatomie eines Weltereignisses: Arthur Francks Dokumentarfilm Der Helsinki Effekt über die KSZE-Abschlusskonferenz 1975

Einen Film ohne einen einzigen Drehtag herzu­stellen, hatte sich der finnische Doku­men­ta­rist Arthur Franck im Herbst 2021 vorge­nommen. Also begab er sich ins Archiv des staat­li­chen Fern­se­hens und sichtete 240 Stunden Material zum größten Ereignis in der jüngeren finni­schen Geschichte: dem drei­tä­gigen Abschluss der Konferenz für Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit in Europa (KSZE), die vom 30. Juli bis 1. August 1975 in Helsinki stattfand. Zu sehen sind wartende, rauchende, sich verspre­chende und gähnende Fern­seh­kor­re­spon­denten aller Länder – fast durchweg Männer. Das vermit­telt viel Zeit­ko­lorit und eine amüsante, plas­ti­sche Vorstel­lung von der zeit­li­chen Dimension der Mammut­ta­gung, der größten seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa. Die Staats­chefs und Außen­mi­nister Europas mit Ausnahme von Andorra und Albanien nahmen daran teil, hinzu kamen Kanada und die USA.

Arthur Franck ging es darum, die Schönheit der Diplo­matie zu zeigen, wie er sagt: »Der Helsinki Effekt ist ein archi­va­ri­scher Traum vom Kalten Krieg, bei dem es mehr um Geschichts­schrei­bung als um Geschichte an sich geht. Im Grunde ist der Film ein atmo­sphäri­sches Stim­mungs­bild, das von den Wind­mühlen der Geschichte angeheizt wird.« Erlesen schön ist auf jeden Fall auch heute noch der Ort, an dem im Sommer 1975 der Geist von Aufbruch und Versöh­nung wehte: Alvar Aaltos Finlandia-Halle im Zentrum Helsinkis. Nähert man sich dem letzten Werk des Archi­tekten zu Fuß von der belebten Haupt­straße Manner­heimm­intie aus, wirkt das lang­ge­streckte Konzert- und Kongress­ge­bäude eher zurück­hal­tend und im besten Sinne demo­kra­tisch. Das in Schwarz gehaltene Erdge­schoss staucht den optischen Eindruck, ehe der Blick nach oben geht, zu den Ober­ge­schossen aus weißem Südti­roler Nuvolato-Marmor. Der ursprüng­liche Carrara-Marmor hatte sich seit der Fertig­stel­lung des Gebäudes 1971 bereits zweimal wegen der rauhen nord­eu­ropäi­schen Witterung in unäs­the­ti­sche Falten gelegt. Kommt man jedoch von der Töölö-Bucht auf das Gebäude zu, so wie im Sommer vor fünfzig Jahren die Konfe­renz­teil­nehmer wie der breit grinsende Bundes­kanzler Helmut Schmidt in ihren Limou­sinen, ragt das funk­tio­nale Bauwerk imposant in die Höhe.

Auch die erlesene Innen­aus­stat­tung, für die Alvar, Aino und Elissa Aalto jedes Detail persön­lich auswählten, steht für den exqui­siten finni­schen Geschmack. Er ist überall dezent präsent, etwa in U-Bahnhöfen, zahl­rei­chen Art-Déco-Restau­rants, Porzel­lan­ma­nu­fak­turen oder in den auffäl­ligen Säulen des Parla­ments­ge­bäudes – hier erklärte die Republik am 6. Dezember 1917 ihre Unab­hän­gig­keit.

Für das »Finlan­dia­talo« (Finn­land­haus) entwarfen die Aaltos schwarz-goldene Beistell­tisch­chen in Wolken­form. Lange gewundene Marmor­bänder winden sich als Tresen um die luftigen Garderoben, knallrote schmale Sofas verheißen Entspan­nung. Für die Sessel im Kammer­mu­sik­saal mit gut 300 Plätzen wählten die Designer Bezüge in dunklem Beerenrot. Im Parkett sind kreis­runde goldene Deckel einge­lassen, unter denen sich profane Steck­dosen verbergen. In der Phil­har­monie mit ihren 1750 Plätzen dominiert das Blauweiß der finni­schen Natio­nal­fahne.

Der Unter­zeich­nung der KSZE-Schluss­akte am 1. August 1975 waren 672 Tage Vorarbeit voraus­ge­gangen, auch das zeigt Francks Film detail­liert. Auf dem riesigen sechs­eckigen Tisch waren fran­zö­si­sche Länder­schilder platziert: West­deutsch­land bezie­hungs­weise die Répu­blique Fédérale d‘Allemagne, vertreten durch Bundes­kanzler Helmut Schmidt, hatte darauf bestanden, neben der Répu­blique Démo­cra­tique Allemande und damit Erich Honecker zu sitzen. Im üblichen engli­schen Alphabet hätten Finnland und Frank­reich die Deutschen getrennt.

Jahrelang hatte die Sowjet­union ihren kleinen neutralen Nachbarn Finnland zur Abhaltung einer blockü­ber­grei­fenden Konferenz gedrängt, mit der die in Jalta fest­ge­legten Nach­kriegs­grenzen zemen­tiert werden sollten. Finnlands beliebter Präsident Urho Kekkonen – in der Finlandia-Halle mit einem Porträt in Gold verewigt – traf den sowje­ti­schen Staats­chef Leonid Breschnew mehrfach zur Vorbe­rei­tung, unter anderem in Wladi­wostok. »Kekkonen trinkt unglaub­lich viel Kaffee, und ich bete in Gedanken an Gott um Tee«, wird Breschnew in einem der einstigen Geheim­pro­to­kolle zitiert, die Franck einsehen konnte.

Der Running Gag seines Films besteht jedoch darin, dass die Aussagen Bresch­news und seines Kontra­henten Henry Kissinger nicht einfach von Sprechern verlesen werden: Der Regisseur ließ durch – im Film angekün­digte – Künst­liche Intel­li­genz (Voice AI) die brummigen Stimmen des in der Ukraine geborenen Russen und des frän­ki­schen Ameri­ka­ners nach­bilden. Mit beiden grimmig-char­manten Herren tritt er in einen fiktiven Dialog. Auch wenn das manchmal allzu flapsig wirkt: Alle Aussagen der beiden Politiker sind belegt, etwa wenn sich US-Außen­mi­nister Kissinger mokiert: »Die Konferenz kann niemals mit einem sinn­vollen Dokument enden. Von mir aus können sie es in Suaheli schreiben.« In seinen Memoiren »Diplomacy« (1994) revi­dierte er diese Haltung grund­le­gend: »Die Europäi­sche Sicher­heits­kon­fe­renz hatte eine wichtige Doppel­rolle zu spielen: In ihrer Planungs­phase mäßigte sie das sowje­ti­sche Verhalten in Europa, und danach beschleu­nigte sie den Zusam­men­bruch des Sowjet­im­pe­riums.«

Der titel­ge­bende Schmet­ter­lings­ef­fekt der KSZE-Konferenz entstand vor allem durch den soge­nannten dritten Korb, auf den West­eu­ropa, die USA und Kanada größten Wert legten. In ihm ging es um die Menschen­rechte: die Freiheit der Auswan­de­rung sowie Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung, Pres­se­frei­heit und den kultu­rellen Austausch über Block­grenzen hinweg. Mit der KSZE-Schluss­akte lag erstmals ein Dokument mit verbrieften Rechten vor, auf das sich Dissi­denten und Bürger­rechts­be­we­gungen im Warschauer Pakt berufen konnten, so dass sich überall soge­nannte Helsinki-Gruppen bildeten. Das hatte die sowje­ti­sche Dele­ga­tion nicht bedacht. Diese Entwick­lung führte zu Bewe­gungen wie der polni­schen Gewerk­schaft Soli­dar­ność und kulmi­nierte schließ­lich 1989 im Fall der Berliner Mauer. Dennoch hinderte der Vertrag von Helsinki die Sowjet­union nicht daran, 1980 in Afgha­ni­stan einzu­mar­schieren – mit verhee­renden Folgen, die bis heute andauern.

Die Metapher des Korbs nimmt Arthur Franck wörtlich, indem er sie mit Basket­ball­szenen unterlegt. Vor allem durch das Footage-Material aus Fern­seh­stu­dios, die durch die wochen­lange Bericht­erstat­tung an ihre Grenzen kamen, gelingt ihm ein leben­diges und witziges Dokument über ein an sich trockenes Thema. Seine Meta­phorik des Wörtlich-Nehmens bringt Gläser ins Bild, aus denen Keimlinge wachsen oder allerhand Illus­tra­tionen des Begriffs »Détente«, Entspan­nung. Denn mit Helsinki 1975 ging endgültig der Kalte Krieg zu Ende.

Nach der Unter­zeich­nung am 1. August 1975 um 17 Uhr gab es Cham­pa­gner und Erdbeeren aus Suonen­joki. Die finni­schen Gastgeber empfanden die Abschluss­kon­fe­renz, der zwei vorbe­rei­tende voraus­ge­gangen waren, als eine Art Weih­nachten im kurzen, ohnehin eupho­ri­schen finni­schen Sommer. Rund um den kommenden 1. August ist ein großes Jubiläums­fest geplant. Derweil verstärkt Russland seine Mili­tär­prä­senz an der geschlos­senen, 1340 Kilometer langen Grenze zum NATO-Mitglied Finnland. Es ist die Hoffnung auf den Schmet­ter­lings­ef­fekt, die neben der Musik von Uno Helmersson und Patrik Andrén diesen außer­ge­wöhn­lich origi­nellen Doku­men­tar­film voran­treibt. Fünfzig Jahre später erscheint sie nötiger denn je.

Verhandlungen statt Rüstungswettlauf

Was unserer Gegenwart fehlt: Arthur Francks Dokumentarfilm erinnert unterhaltsam an die KSZE-Verhandlungen 1975, zeigt die Vorzüge der Entspannungspolitik der 1970er Jahre und ist plötzlich überaus aktuell

»Die europäi­sche Sicher­heit macht mir Sorgen. Ich denke, wir werden da rein­ge­zogen.« (Richard Nixon)
»Wir sind da schon ziemlich tief drin.« (Henry Kissinger)
»Ich weiß. Lass mich dir eines sagen: Wenn es europäi­sche Sicher­heit gibt – dann kannst du die NATO so gut wie vergessen.« (Nixon)
»Davon bin ich auch überzeugt.« (Kissinger)
»Aber ich bin auch ziemlich sicher, dass die NATO sowieso erledigt ist. Nur unter uns gesagt.«

Ein Dialog zwischen US-Präsident Richard Nixon und seinem Sicher­heits­be­rater, Chef­di­plo­maten und späterem Außen­mi­nister Henry Kissinger aus dem Jahr 1972, der Vorbe­rei­tungs­phase der KSZE-Konferenz, und einer der inter­es­san­testen Momente dieses Films.

Die USA standen dem Unter­fangen einer Europäi­schen Sicher­heits­kon­fe­renz nämlich zunächst ablehnend gegenüber, denn schlaue Außen­po­li­tiker wie Nixon und Kissinger ahnten, dass entspre­chende Abkommen die Rolle der USA als westliche Führungs­macht in Frage stellen würde.

Dieser Dialog ist auch insofern bis heute so relevant wie verrä­te­risch, weil er zum einen die tiefe Skepsis der USA gegenüber der NATO zeigt. Darüber hinaus aber legt er offen, dass die NATO für die US-ameri­ka­ni­sche Außen­po­litik keines­wegs die in Sonn­tags­reden gern propa­gierte Werte­ge­mein­schaft ist, sondern ein rein funk­tio­nales Instru­ment, um europäi­sche Eigen­s­tän­dig­keiten zu verhin­dern, und die eigenen west­eu­ropäi­schen Verbün­deten unter Kontrolle zu halten.

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Die Welt im Jahre 1975 war in starre Blöcke geteilt, ideo­lo­gisch, ökono­misch, macht­po­li­tisch. Auch wenn der Kalte Krieg seit Ende der Sechziger Jahre ein Tauwetter erlebte, schwebte immer noch die Drohung gegen­sei­tiger atomarer Vernich­tung über der Welt.

Darum ging es bei der »Konferenz für Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit in Europa« kurz: KSZE, die seit 1969 verhan­delt wurde, und deren viele, fein­aus­ta­rierte Abkommen vor fast 50 Jahren, am 2.August 1975 in Helsinki von 35 Staaten verab­schiedet wurden: Um Abrüstung, gegen­sei­tige Sicher­heits­ga­ran­tien und um die kleinen mensch­li­chen Dinge wie Reise­frei­heit – kurz: um den Frie­dens­ver­trag, den Europa nach dem Zweiten Weltkrieg nie hatte.
»Der Kalte Krieg ist vorbei!« titelte denn auch der Spiegel etwas voreilig nach der Konferenz.

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All das schildert der Film sehr unter­haltsam und leicht konsu­mierbar. Regisseur Arthur Franck arbeitet mit viel und unge­wöhn­li­chem Archiv­ma­te­rial, kurzen animierten Passagen und KI-gene­rierten Off-Stimmen der Betei­ligten, die die kürzlich erst frei­ge­ge­benen Abschriften der diplo­ma­ti­schen Dialoge in Ton-Form bringen.

Wie beispiels­weise in einem Dialog zwischen dem sowje­ti­schen Staats­chef Leonid Breschnew und Henry Kissinger:

»Als ich gestern Abend nach Hause kam, zeigte mir meine Frau ein Bild in der Zeitung. Sie sagte: 'Dr. Kissinger hat abge­nommen.' Ich sagte: 'Nein. Das liegt an dem Foto.'«
»Ihre Frau ist eine groß­ar­tige Diplo­matin.«

Dies ist nur einer von vielen Momenten in diesem Film, der die Staats­männer aller Seiten als Menschen zeigt, als ganz normale Leute, die über ihr Gewicht reden, über ihre Familie, über Pepsi Cola, oder über Dritte lästern, die gerade nicht im Raum sind, egal welchem Block sie angehören.

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Pünktlich zum 50. Jubiläum der Helsinki-Konferenz am 2. August 2025. Der Helsinki Effekt vom finni­schen Regisseur Arthur Franck ist ein doku­men­ta­ri­scher Essay, der die KSZE-Schluss­akte als ein weithin unter­schätztes Ereignis präsen­tiert: Tatsäch­lich wurde Helsinki bereits wenige Jahre nach Unter­zeich­nung im Westen aller ursprüng­li­chen Kritik zum Trotz beinahe mytho­lo­gi­siert als Bezugs­punkt der osteu­ropäi­schen Bürger­rechts­be­we­gungen – und spätes­tens seit 1989/1990 stili­sierte man die Konferenz zu einem geopo­li­ti­schen Wende­punkt und Eisbre­cher im Kalten Krieg. Manche Histo­riker sehen das heute mindes­tens diffe­ren­zierter.

Zur Initi­al­zün­dung von »Helsinki« wurde eine Rede Leonid Bresch­news in Budapest:

»Die zentrale Frage der europäi­schen Sicher­heit ist die Unver­letz­lich­keit der europäi­schen Grenzen, wie sie sich im Ergebnis des Zweiten Welt­kriegs heraus­ge­bildet haben. Es wäre sehr wichtig, zu diesem Zweck eine entspre­chende inter­na­tio­nale Konferenz einzu­be­rufen und die letzten Überreste des Zweiten Welt­kriegs volls­tändig zu besei­tigen.«

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Der Helsinki Effekt ist ein Film in zwölf Kapiteln. Über die Kunst der Diplo­matie und über eine Konferenz, die sehr viel verän­derte.
Der Film ist vor allem ein Lob und eine Vertei­di­gung der Diplo­matie: »Der Diplomat ist ein seltsames Wesen: wachsam, höflich, geduldig, rück­sichtslos.«

Franck erklärt geduldig: Um Konflikte zu lösen und Gewalt zu vermeiden, muss man verhan­deln. Verhand­lungen erfordern aber den Willen beider Seiten, Kompro­misse zu schließen. Wohl­ge­merkt: beider Seiten! Es geht in der Diplo­matie nicht um Gut und Böse, oder ums Recht-Haben. Es geht darum, dass Länder sich über gemein­same Inter­essen vers­tän­digen.

Der Regisseur Franck gibt sich viel Mühe, die Konferenz zu drama­ti­sieren und für heutige Zuschauer konsu­mierbar zu machen, ohne einzelne Politiker zu Helden zu machen. Das entpuppt sich als schwie­riges Unter­fangen.
Denn einer­seits möchte Franck dieser Staats­kunst ihre Würde geben, und im Publikum einen Sinn für den Ernst der damaligen Lage und der Verhand­lungen schaffen, zugleich die Mensch­lich­keit aller Betei­ligten betonen. Doch im selben Moment will er einen – nach heutigen Maßstäben und dem eher schlichten Main­stream­ge­schmack entspre­chend – »unter­halt­samen« Film machen. Darum gibt es hier allerhand bemühte Witze und manchmal eine Betonung des Banalen, die auf Kosten der eigent­li­chen Geschichte und ihres Ernstes geht.

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Der Film arbeitet mit einer sugges­tiven Montage und verfällt am Ende in Triumph­gesten, indem er sich die – unter Histo­ri­kern sehr wohl umstrit­tene – allzu eingän­gige These zu eigen macht, nach der die Konferenz von Helsinki gewis­ser­maßen der entschei­dende Schritt zum zukünf­tigen Zusam­men­bruch des Ostblocks und Fall des Eisernen Vorhangs gewesen sei.

Beispiels­weise legt er über das Bild, auf dem der sowje­ti­sche Staats­chef Leonid Breschnew im Augen­blick seiner Unter­schrift unter das KSZE-Dokument zu sehen ist, den tenden­ziösen Kommentar:

»Dieser Mann ist im Begriff, einen großen Fehler zu machen. Er weiß es nicht. Und ihm bleibt nicht genug Lebens­zeit, um zu erfahren, welche Auswir­kungen seine Unter­schrift auf dem Dokument haben würde.
Er ist natürlich nicht der Einzige, der das nicht weiß. Tatsäch­lich ist sich niemand in diesem Raum darüber im Klaren, welche Ereig­nisse er im Augen­blick auslöst, die zu einem epochalen Umbruch führen würden.«

Der Regisseur bemüht dazu die Chaos-Theorie: »In der Chaos-Theorie bezeichnet der Schmet­ter­lings­ef­fekt die empfind­liche Abhän­gig­keit eines deter­mi­nis­ti­schen nicht­li­nearen Systems von den Anfangs­be­din­gungen, wonach nicht vorher­sehbar ist, wie sich kleinste Ände­rungen lang­fristig auswirken.«

Der Zusam­men­bruch des Ostblock sei sozusagen ein unvor­her­seh­barer Neben­ef­fekt der KSZE-Konferenz gewesen.

Doch das alles bleibt wie gesagt eine reine Behaup­tung.

US-Außen­mi­nister und Realist Henry Kissinger, der heimliche Star dieses Films, sah alles schon damals erheblich nüch­terner:
»The Soviet­union will not be over­thrown without noticing it. And certainly not because of free circu­la­tion of news­pa­pers.«

Der Helsinki-Effekt war kein Schmet­ter­lings­ef­fekt.

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Man entwi­ckelt beim Zuschauen schnell eine große Sehnsucht nach dieser Zeit.

Ein bisschen Sinn für Geschichte und für die Rela­ti­vität unserer Gegenwart hilft beim Anschauen aller­dings sehr. Denn dann wird man immer mal wieder daran denken, dass auch unsere heutige Gegenwart mit ihren Wert­vor­stel­lungen in 50 Jahren ein bisschen albern und vergangen wirken werden – so wie das, was wir jetzt in diesem Film sehen.
Aber das Vergan­gene hat seine eigene Würde. Und an diese Würde erinnert dieser Film.

Natürlich liegt es nahe, heutigem Zeitgeist entspre­chend zu meckern: Kaum eine Frau taucht in dieser Welt auf.
Es war die Zeit, in der große Männer Geschichte machten.
Aller­dings machten sie tatsäch­lich Geschichte. Sie sprachen mitein­ander, sie verhan­delten. Es ging um die Wirk­lich­keit, nicht um Moral und abstrakte Prin­zi­pien. Und die Tatsache, dass diese Menschen manchmal zu viel tranken und manchmal schlechte Witze über Frauen machten, führte viel­leicht dazu, dass Atom­bom­ben­ein­sätze und Welt­kriege verhin­dert wurden – jeden­falls hat man mitein­ander über alle ideo­lo­gi­schen Diffe­renzen hinweg gespro­chen und Kompro­misse gefunden und dabei einen großen Ernst an den Tag gelegt.

Diesen Ernst und diese Verhand­lungs­of­fen­heit auch heute in den Auftritten heutiger Politiker wie Donald Trump und Wladimir Putin, Friedrich Merz und Annalena Baerbock zu finden, fällt schwer.

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Er ist auch ein Beitrag zu poli­ti­schen Fragen der Gegenwart An diesem Mittwoch-Morgen ging ein Manifest für den Frieden durch die Nach­richten. Darin erin­nerten über 100 Erst­un­ter­zeichner, darunter viele promi­nente Politiker der SPD, an die Entspan­nungs­po­litik der 1960er und 1970er Jahre, und forderten »eine Strategie der Dees­ka­la­tion und schritt­weisen Vertrau­ens­bil­dung« in Europa.
Das Papier rekur­riert auf die Entspan­nungs­po­litik der 1960er Jahre und erinnert an Willy Brandt, der »wie andere führende Politiker der damaligen Zeit die richtigen Konse­quenzen aus der Perspek­tiv­lo­sig­keit der Rüstungs­spi­rale gezogen« habe: »An die Stelle von Konfron­ta­tion und Hochrüs­tung traten Gespräche und Verhand­lungen über Sicher­heit durch Koope­ra­tion, Vertrau­ens­bil­dung, Rüstungs­kon­trolle und Abrüstung.«
Das alles erinnerte an den Geist der KSZE-Schluss­akte.

So funk­tio­niert dieser Film auch wie eine Mängel­an­zeige für die poli­ti­schen Verhält­nisse unserer Gegenwart.

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Natürlich kann man das alles auch ganz leicht diffa­mieren: Kompro­misse wurden gemacht, die den Prin­zi­pi­en­rei­tern und Mora­listen beider Blöcke sehr faul vorkamen – viel­leicht war es ein gutes Zeichen, dass Presse und Politik in Ost wie West die KSZE-Verhand­lungen entweder in Bausch und Bogen verur­teilten oder sie als nichtiges Diplo­ma­ten­spiel ohne Folgen abtaten.

Dies zeigt ein spre­chender Kommentar des US Fern­se­hens während der Helsinki-Konferenz:
»Anything the Soviets want, the Soviets get – that by political necessity is the Finnish motto. And President Breschnew wanted a well-organized, well-run European security confe­rence here in Helsinki. And that’s what he got, run by his friends the Finns.«

Das war der Ton damals.

Was einem auch auffällt: Zwei Menschen, die wir hier sehen, wurden später brutal ermordet: Der schwe­di­sche Minis­ter­prä­si­dent Olof Palme und schon wenige Jahre später der italie­ni­sche Minis­ter­prä­si­dent Aldo Moro.

Ein paar Mängel gibt es auch: Diese hoch­in­ter­es­sante Geschichte erzählt der Regisseur nämlich um einiges zu umständ­lich. Vor allem aber fehlt ihm das Selbst­be­wusst­sein. Arthur Franck scheint sein Interesse für Politik nämlich selbst etwas peinlich zu sein, er hat offenbar Angst, zu über­heb­lich, spezia­lis­tisch, oder gar »nerdy« zu wirken. Das kompen­siert er mit einem zu dick aufge­tra­genen, verklemmten und gele­gent­lich allzu forcierten Humor.
So hört man den Sprecher einmal ans Publikum gerichtet sagen: »Okay, wenn Sie bisher noch nicht einge­schlafen sind, folgen Sie mir bis zum Ende.«

Das ist aber genau der falsche Zugang. Es wäre deutlich besser und souver­äner gewesen, den Stoff kühl, trocken zu präsen­tieren und nicht zu versuchen, ihm einen Pseudo-Unter­hal­tungs­wert abzu­ringen.

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Arthur Francks Film ist also keines­wegs perfekt. Aber er ist unbedingt sehens­wert, weil er die erwähnte Sehnsucht bedient, und weil er schmerz­haft aufzeigt, was unserer Gegenwart fehlt.

Anmer­kungen:

- Der Film kommt in der Origi­nal­fas­sung und in einer deutschen Fassung in die Kinos. Auch in dieser deutschen Fassung besteht mindes­tens die Hälfte des Filmtons aus engli­scher, russi­scher, finni­scher und anderen Sprachen. Synchro­ni­siert wurde nur die Erzähl­stimme. Sie wurde von Bjarne Mädel einge­spro­chen.

- In Bayern startet der Film diese Woche in Nürnberg im Kino Casablanca und in München im Monopol Kino ab Anfang Juli.

- der Film wird außer in regulären Kino­pro­grammen auch in den nächsten Tagen in einigen Sonder­pre­mieren mit anschließenden Gesprächen gezeigt.

Folgende Termine stehen fest:

- Braun­schweig: Donnerstag, 12. Juni 2025, 19:00 Uhr, Universum Film­theater, Braun­schweig – zu Gast: Arthur Franck

- Lübeck: Donnerstag, 12. Juni 2025, 18:00 Uhr, Kommu­nales Kino Lübeck – eine Präsen­ta­tion des Willy-Brandt-Hauses Lübeck in Koope­ra­tion mit den Nordi­schen Filmtagen Lübeck – zu Gast: Bernd Greiner (Grün­dungs­di­rektor des Berliner Kollegs Kalter Krieg)

- Dortmund: Donnerstag, 12. Juni 2025, 19:00 Uhr, Roxy Licht­spiel­haus – zu Gast: Stefan Kloos, Produzent

- Leipzig: Freitag, 13. Juni 2025, 18:00 Uhr, Passage Kinos, Leipzig – zu Gast: Arthur Franck

- Freiburg: Freitag, 13. Juni 2025, 20:00 Uhr, Kommu­nales Kino/KoKi Freiburg – zu Gast: Stefan Kloos, Produzent

- Köln: Samstag, 14. Juni 2025, 17:00 Uhr, Odeon Kino – zu Gast: Stefan Kloos, Produzent

- Düssel­dorf: Samstag, 14. Juni 2025, 19:00 Uhr, Metropol Film­kunst­kino – zu Gast: Stefan Kloos, Produzent

- Berlin: Sonntag, 15. Juni 2025, 11:00 Uhr, BALI Kino – zu Gast: Stefan Kloos, Produzent

- Hamburg: Dienstag, 17. Juni 2025, 19:00 Uhr, 3001 Kino – zu Gast: Stefan Kloos, Produzent

Die Liste der den Film spie­lenden Kinos und Premieren wird unter dieser Adresse stets aktua­li­siert.