Heaven Can Wait – Wir leben jetzt

Deutschland 2023 · 103 min. · FSK: ab 0
Regie: Sven Halfar
Drehbuch:
Kamera: Julia Lohmann, Matthias Wittkuhn
Schnitt: Nina Glauche
Gegen Furcht und Lampenfieber und für eine erfülltes Leben...
(Foto: mindjazz pictures)

Singen hält jung

Die hoffnungsfrohe Doku porträtiert Senior:innen über 70, die in einem Hamburger Chor ungeahnte Lebensfreude erfahren, indem sie zusammen deutsche Poplieder singen

»Nicht nur die Augen, sondern auch die Stimme ist ein Spiegel der Seele«, schreibt der Regisseur Sven Halfar in einem Statement im Pres­se­heft seines jüngsten Films. Nach seinen Erfah­rungen verwan­deln sich Menschen, wenn sie fühlen, was sie singen und öffnen ihre Seele. Dass das zutrifft, kann man in Heaven Can Wait – Wir leben jetzt bei etlichen betagten Chor­sän­gern sehen und hören. Wir werden Zeugen, wie die Senio­rinnen und Senioren ihre Furcht, den Text zu vergessen oder den Ton nicht zu treffen, besiegen ihr Lampen­fieber über­winden und einfach loslassen und sich der Musik hingeben.

Wer in dem Hamburger Chor »Heaven Can Wait« mitwirken will, muss mindes­tens 70 Jahre alt sein. Viele der 30 Mitglieder sind schon über 80, die älteste Sängerin ist aktuell 97 Jahre alt. Alle teilen die Liebe zur Musik und genießen die Gebor­gen­heit in der Gemein­schaft Gleich­ge­sinnter. Bei ihren Auftritten schmet­tern sie, in farben­frohe Kostüme gekleidet, meist deutsch­spra­chige Pop-, Rock- und Hiphop-Lieder etwa von Sido, Deichkind, Udo Linden­berg, Jan Delay, Fettes Brot und den Fantas­ti­schen Vier, aber auch mal Songs von der US-Rockband Nirvana oder The Bee Gees mit so großem Elan, dass der Funke zum Publikum rasch über­springt.

Der Film, der auf der Film­kunst­messe in Leipzig gerade den Publi­kums­preis gewonnen hat, greift sechs Chor­mit­glieder heraus, die etwas ausführ­li­cher vorge­stellt werden und oft mit Blick in die Kamera aus ihrem Leben erzählen. So wie der 81-jährige Volker, der jahr­zehn­te­lang als Kapitän zur See fuhr und nach zwei Schei­dungen nun in der dritten Ehe sein Glück gefunden zu haben scheint. Aus der Riege der Chor­mit­glieder ragt eine Person heraus: Es ist die 83-jährige Joanne, die als einzige eine profes­sio­nelle Stimm­aus­bil­dung als Opern­sän­gerin absol­viert hat. Mit ihrer Stimm­ge­walt und ihrem Tempe­ra­ment kann die schwarze US-Ameri­ka­nerin, die es nach Musical-Enga­ge­ments irgendwie nach Hamburg verschlagen hat, ihre Kolle­ginnen und Kollegen gele­gent­lich mitreißen und zu besseren Leis­tungen anspornen. Die Kameras von Julia Lohmann und Matthias Wittkun begleiten die Senio­rinnen und Senioren bei Proben im Theater, auf den Busreisen zu Auftritten, aber auch in die Wohnungen. Und durch die belas­tenden Restrik­tionen der Lockdowns der Corona-Jahre.

Geleitet wird der Chor von Jan-Christof Scheibe, einem ebenso ener­gi­schen wie viel­sei­tigen Popmu­siker, Musik­pro­du­zenten und Film­mu­sik­kom­po­nisten, der Chor offenbar seine Berufung gefunden hat. Seine Mutter Evamaria Scheibe wirkt ebenfalls in dem Ensemble mit und motiviert ihn zusätz­lich. Bei den Proben macht er den Sänge­rinnen und Sänger immer wieder klar, dass es ihm nicht um die tech­ni­sche Perfek­tion der Darbie­tung geht, sondern um den emotio­nalen Ausdruck. Er möchte, dass die Chor­mit­glieder fühlen, was sie singen, und so eine emotio­nale Beziehung zum Publikum aufbauen.

Der 1972 in Wein­garten geborene Autor und Regisseur, hat ein beson­deres Faible für musi­ka­li­sche Themen, wie seine ZDF-Doku Die Peter Maffay Story (2001), die Musik-Doku Yes I Am (2006) über drei junge deutsche Musiker afri­ka­ni­scher Herkunft und zuletzt das Film­por­trät Silly – Frei von Angst (2017) über die gleich­na­mige Berliner Kultband belegen. Außerdem drehte Halfar Musik­vi­deos unter anderem für Ferris MC, Such a Surge, Adé Bantu und Joachim Witt.

Ange­sichts des fort­ge­schrit­tenen Alters der Ü70-Truppe spielen Themen wie Einsam­keit, Krank­heiten und das Sterben eine wichtige Rolle. Doch auch wenn mal jemand klagt, so geht es im Film nie larmoyant zu. Im Gegenteil: Man zeigt durchaus Mut zur Selbst­ironie. Etwa wenn einer der Sänger enthüllt, dass er aufpassen muss, dass seine Zahn­pro­these nicht verrutscht, wenn er mit großer Kraft singt.

Immer wieder wird spürbar, dass Moni (79), Diet (82), Ingrid (84) und die anderen einer Gene­ra­tion angehören, die den Zweiten Weltkrieg und die Hunger­jahre danach miterlebt hat, die in einer Zeit aufge­wachsen ist, in der es oft uner­wünscht war, Gefühle offen zu zeigen. Genau das können – und sollen – sie aber nun im Chor. Und sie ergreifen die Chance mit sicht­li­chem Gewinn. Die neu gewonnene Lebens­freude, der frische Lebensmut sind ihnen in diesem inspi­rie­renden Film anzusehen. Das kollek­tive Singen scheint sie tatsäch­lich jung zu halt.

So offen­herzig manche Senio­rinnen und Senioren hier auch über ihre Sorgen und Nöte, Sehn­süchte und Träume berichten und so anrührend und einige schick­sals­schwere Lebens­wege auch anmuten, der Gesamt­ein­druck wird leider nach­haltig getrübt durch eine rastlose Montage. Halfar lässt seinen Prot­ago­nisten kaum einmal Zeit, sich ausführ­li­cher zu äußern, nach wenigen Sätzen schneidet er zum nächsten Sänger. Und bei den Proben und Konzerten können wir kein einziges Lied oder ein Gesangs­solo komplett hören. Nur bei der Seebe­stat­tung eines verstor­benen Chor­mit­glieds gewährt die Kamera, die aus der Vogel­per­spek­tive auf das Boot blickt, den Zuschau­enden einmal für eine gewisse Zeit die Muße, die Augen in Ruhe schweifen zu lassen. Die unnötige Hektik ist umso unpas­sender und unver­s­tänd­li­cher, als die porträ­tierten Senio­rinnen und Senioren sich ihrem Alter und körper­li­chen Zustand entspre­chend gemäch­lich bewegen.