Der Gymnasiast

Le lycéen

Frankreich 2022 · 123 min. · FSK: ab 16
Regie: Christophe Honoré
Drehbuch:
Kamera: Rémy Chevrin
Darsteller: Paul Kircher, Vincent Lacoste, Juliette Binoche, Erwan Kepoa Falé, Adrien Casse u.a.
Blumen für unterwegs
(Foto: Salzgeber)

Der Drang zum Leben

Christophe Honoré erzählt mit Der Gymnasiast eine aufwühlende Geschichte vom Heranwachsen zwischen Provinz und Paris, zwischen Tod und unbändigem Begehren

Ein Vater (Chris­tophe Honoré) und sein 17-jähriger Sohn (Paul Kircher) auf einer Autofahrt zwischen Zuhause und Internat, wie sie öfter statt­findet. Doch diesmal öffnet sich der Vater ganz nebenbei mit dem Bekenntnis, dass er sich auch ein anderes Leben hätte vorstellen können als das eines durch­schnitt­li­chen Zahn­arztes mit Familie in der fran­zö­si­schen Provinz. Noch bevor Lucas, der Sohn, seine Irri­ta­tion darüber richtig einordnen kann, kommt der Wagen – uner­war­tetes Über­hol­manöver eines entge­gen­kom­menden Autos – jäh von der Straße ab. Vater und Sohn können auf der Wiese stoppen, sie sind mit dem Schrecken davon­ge­kommen.
Dieser Zwischen­fall erscheint Lucas im Rückblick als Vorzei­chen einer fami­liären Kata­strophe, die ihn aus der Bahn werfen wird. Er thema­ti­siert dies in einer Art Inter­view­si­tua­tion, in der Lucas Auskunft gibt über die 14 Tage nach der Kata­strophe, die sein Leben umstürzten. Die immer wieder einge­streuten Szenen seiner Erin­ne­rungen werden hinsicht­lich Ort und Zeit nicht genau situiert. Sie signa­li­sieren vor allem eines: Lucas hat etwas Einschnei­dendes durch­ge­macht, er hat etwas hinter sich. Allein von diesem knappen Zeitraum, diesen 14 Tagen, die Lucas erwähnt, erzählt Der Gymna­siast. Es sind zwei Wochen prall gefüllt mit nur schwer Verar­beit­barem. Der Fokus der Darstel­lung liegt dabei ganz auf der Inten­sität der durch­lebten Zeit – ihre Linea­rität scheint außer Kraft gesetzt.

»Ein wildes Tier« sei sein Leben geworden, sagt Lucas. Ein Drang, unbändig, fast unlebbar, ausgelöst von der Erschüt­te­rung der Kata­strophe, eröffnet im Leben von Lucas von nun an gewalt­same Flucht­li­nien. Er beschließt, erst einmal nicht auf das Internat zurück­zu­kehren, auch der Freund, mit dem er ein letztes Mal Sex hat, kann ihn nicht zurück­halten. Lucas will raus aus der Provinz, will für einige Tage nach Paris, zu seinem Bruder Quentin (Vincent Lacoste), der versucht, sich dort als Künstler durch­zu­setzen.
Ein riskanter Aufbruch, auch in Lucas Gefühls­leben. Er ist bereit, an die Grenzen seines Ichs, seines Körpers, seines schwulen Begehrens zu gehen.

In der Unbe­dingt­heit, der Rück­halt­lo­sig­keit, mit der Lucas sich hier in seine Emotionen wirft, und in der Direkt­heit und Offenheit, mit der sich ihm Kamera und Regie über­lassen, erinnert Der Gymna­siast an die besten Filme von André Téchiné, an Ich küsse nicht (J'embrasse pas) oder den jüngeren und thema­tisch verwandten Mit siebzehn (Quand on a 17 ans).

Honoré verar­beitet, so sagt er in Inter­views, mit der Geschichte von Lucas ein fami­liäres Trauma, das ihn selbst als Jugend­li­chen getroffen hat. Auf diesen auto­bio­gra­phi­schen Hinter­grund weist die Tatsache, dass der Regisseur selbst den Vater spielt, der die familiäre Kata­strophe auslöst. Jedoch stellt Honoré entgegen heutigen modischen Trends seinen Film nicht als Auto­fik­tion aus. Seine aufwüh­lende Geschichte vom Heran­wachsen ist auch die Geschichte einer exis­ten­ti­ellen Verwir­rung und starken Erschüt­te­rung, die nicht auf die eine Person, auf das eine Erleben reduziert werden muss.

Zur über­zeu­genden Inten­sität, mit der dies erzählt wird, tragen die Darsteller*innen bei: Juliette Binoche als Mutter und Vincent Lacoste als Bruder, aber allen voran Paul Kircher der als Schau­spiel­ent­de­ckung zu feiernde Darsteller von Lucas. Seine Unmit­tel­bar­keit des Darstel­lens erinnert nicht von ungefähr an die Art und Weise, wie Téchiné in Mit siebzehn Kacey Mottet-Klein als unge­stümen Heran­wach­senden insze­nierte.

Kame­ra­mann Rémy Chevrin – mit ihm arbeitete Honoré bereits in mehreren seiner Filme zusammen – gibt den auf 35mm-Material gefilmten Bildern eine eigene Sensi­ti­vität, die für die heftigen Emotionen sehr empfäng­lich ist, ohne sie zu überhöhen. Die ausge­bleichten Farben und das bläss­liche Licht der winter­li­chen Land­schaft in Savoyen geben den eher flächigen, Schärfen­tiefe meidenden Kadrie­rungen eine plas­ti­sche, fast taktile Anmutung, die leicht abdämp­fend wirkt. Grün-bräun­liche Töne mit ihrer Weichheit prägen auch die Ausstat­tung, bei der vor allem die Woll­stoffe mit ihren entsät­tigten Farben charak­te­ris­tisch sind. Insbe­son­dere die finger­losen Hand­schuhe, die Lucas häufig trägt, können fast als Signatur für seine Persön­lich­keit gelesen werden. Sie vereinen Verhül­lung und Nacktheit auf unschein­bare, aber doch ausdrück­liche Weise.

Eine solche Geschichte voller Härte und Hingabe, zwischen Rückzug und Selbst-Expo­nie­rung, unmit­telbar anrührend und in ihrer Wucht geradezu über­wäl­ti­gend, hat man lange nicht sehen können.