Grand Jeté

Deutschland 2022 · 104 min. · FSK: ab 16
Regie: Isabelle Stever
Drehbuch:
Kamera: Constantin Campean
Darsteller: Sarah Nevada Grether, Emil von Schönfels, Susanne Bredehöft, Stefan Rudolf, Eva Medusa Gühne u.a.
Der übermächtige Schatten der Mutter
(Foto: Little Dream/24 Bilder)

Begierde, wo alles zerschunden ist

Isabelle Stever verwandelt in Grand Jeté die inzestuöse Liebe zwischen einer Mutter und ihrem Sohn in erschütternd sensibles Körperkino

Die Tänzerin kann nicht mehr. Ihre Physis versagt. Mit Schwimm­trai­ning versucht sich Nadja in Schuss zu halten, doch die ruhm­rei­chen Tage des Ballett-Stars sind vorüber. Eine erstarrte Fassade ist übrig­ge­blieben, leerer Blick, zur Schau gestellte Gefühls­kälte, die Haare streng zusam­men­ge­bunden, am Hals wuchert ein Ekzem. Als amorphe Masse entwächst die Prot­ago­nistin von Grand Jeté den grob­kör­nigen Bildern. Körper­frag­mente gibt es anfangs zu entdecken. Zwei Schul­ter­blätter, über die sich behaartes Gewebe spannt, drücken sich in den Vorder­grund, um wieder unscharf zu werden. Muskeln verhärten sich zu einer Haltung. Dann geht es hinein in den Trai­nings­saal, um den Nachwuchs zu drillen.

Constantin Campeans meis­ter­hafte Kame­rafüh­rung liebt die Nähe. Fleisch, Ober­flächen, Texturen erkundet sie mit uner­bitt­li­cher Intimität. Fokus­sie­rungen bilden ihre eigene Choreo­gra­phie in diesem verstö­renden, ebenso sinn­li­chen wie rohen Film, der immer neue haptische Bilder entwi­ckelt. Was sich dem Blick entzieht, im Hinter­grund teils nur kris­se­lige Flächen bildet oder abge­schnitten wird, erzeugt eine enorme Spannung in der Form, die Regis­seurin Isabelle Stever (Das Wetter in geschlos­senen Räumen) für ihr neues Werk gewählt hat.

Jede Kopplung scheint sich direkt wieder zu lösen. Jede Annähe­rung, die sich zwischen der Tänzerin Nadja und ihrem Sohn im Privaten entfalten wird, ist zugleich in einer Trennung begriffen. Körper­liche Verbin­dungen zwischen zwei Menschen können kaum in einer Bildebene zusam­men­ge­halten werden. Da erscheint trotzdem immer nur das Indi­vi­duum oder Teile von ihm, das in sich selbst gefangen ist. Seine Umgebung kippt ins Schemen- oder Bruchs­tück­hafte.

Radikal ist Isabelle Stevers Film nicht nur aufgrund seiner Inzest-Thematik, die sich irgend­wann offenbart, sondern auch seiner beengten Subjek­ti­vität. Das Unmit­tel­bare zählt, der Rest der Welt ist ausge­blendet. Die Bilder, die die Regis­seurin dabei in Szene setzt, tasten ihren mate­ri­ellen Kosmos förmlich ab, aber sie sind auch von dem getrie­benen Unter­be­wusst­sein ihrer Figuren durch­wirkt. Jeder Winkel, jede Uneben­heit und Verlet­zung dient der Kamera als Faszi­nosum. Ekstasen, Unsi­cher­heiten, körper­liche Bewe­gungen übersetzt sie in ihre eigenen. Womöglich sollte man Grand Jeté tatsäch­lich als tänze­ri­schen Film begreifen. In der Bewegung und Anordnung von Körpern entfaltet er seine ganze ästhe­ti­sche Kraft.

Was vom Erfolg bleibt

Nadja, die Prot­ago­nistin, erlebt gleich zu Beginn des Films ein spätes Aufbäumen. Als sie ihren Schü­le­rinnen während der Unter­richts­stunde vortanzt, erlangt ihr erschöpfter Körper noch einmal so etwas wie Unbe­schwert­heit, kontrol­lierte Perfek­tion. Kurze Zeit später ist nur noch ihr Fuß sichtbar, ein arg rampo­nierter, blutender Zeh. Was Grand Jeté vom Tanzen erzählt, ist eine physische und psychi­sche Zerfalls­ge­schichte. Es birgt in allem Schönen und Diszi­pli­nierten zugleich das Hässliche und Abgrün­dige, die Tortur.

Der titel­ge­bende Grand Jeté, der gespreizte Sprung, führt vom Verspre­chen von Ruhm und Erfolg hinüber auf die andere, trostlose Seite. Die Ex-Ballerina betäubt mit Medi­ka­menten offenbar nicht nur körper­liche Schmerzen, sondern auch die Verbit­te­rung über den vorzei­tigen Tod der Künst­lerin als Bühnen­ge­stalt. Nadja hat ihren Sohn einst in die Obhut ihrer Mutter gegeben, damit sie sich ganz auf ihre Karriere konzen­trieren kann. Jetzt bandelt sie mit ihm sexuell an, holt die Liebe auf verquere Weise nach. Isabelle Stever zeigt das mit unver­blümter Drastik. Ihre Charak­ter­studie lässt den Tabubruch für sich selbst sprechen. Es fehlt also eine aktive dritte Instanz, eine vermeint­liche Norm, die über die Affäre urteilen, sie in eine Beziehung setzen und reflek­tieren könnte. Grübeln lassen vielmehr die Andeu­tungen und möglichen Psycho­lo­gi­sie­rungen, mit denen Stever ihr Publikum an der Nase herum­führt.

Sarah Nevada Grether und Emil von Schönfels spielen die Haupt­rollen in einem eindrucks­vollen, entblößten Balan­ceakt, der sowohl das Verruchte als auch das Patho­lo­gi­sche vermeidet. Statt­dessen erschaffen die beiden höchst fragile Charak­tere, die immer wieder Entglei­sungen, Trans­gres­sionen suchen, aber zugleich in einer kryp­ti­schen Unnah­bar­keit verharren. Obwohl die Distanz des Publikums zu ihnen geringer kaum sein könnte, bleiben sie ein Rätsel.

Viel­leicht ist es eine Art jugend­liche Trotzlust, mit der sich Mutter und Sohn im Bett begegnen. Einmal rezitiert er Jakob van Hoddis‘ apoka­lyp­ti­sches Gedicht »Weltende«, während sie ihn befrie­digt. Viel­leicht sind da zwei, die insgeheim nur noch den Untergang ersehnen. Viel­leicht erkennen sie sich in Systemen, die eine Zurich­tung von Körpern verlangen, um bestimmte Rollen­muster zu erfüllen. Während sich die eine für das Ballett geschunden hat, ist der andere in einem kuriosen Männ­lich­keits­wett­be­werb zu erleben. Auf der Bühne malträ­tiert er sein Genital mit einem Gewicht.

Jenseits der Norm

Am Ende ist Grand Jeté ein heraus­for­derndes Wider­fahrnis, ein Erzählen über leibliche Zustände und ein Austesten, wie weit das Fürsorge-Prinzip zerlegt werden kann. »Fürsorge«, so heißt auch die Roman­vor­lage von Anke Stelling, auf der der Film basiert. Was bedeutet dieses Wort, wenn es mit der öffent­li­chen Rolle der Mutter nicht vereinbar ist? Besagte Rolle ist es, die Isabelle Stever letztlich im Wider­stand befragt. Ihre Nadja-Figur ist eine Ausge­stoßene, weil sie sich für die Kunst und gegen ihr Kind entschieden hat. Eine Schuld lastet auf ihr, das Hautekzem wird als stra­fendes Mal ausge­wiesen. Und doch unter­wirft sie sich nicht dem, was man von ihr als Frau und Mutter erwartet. Sich zu dem eman­zi­pa­to­ri­schen Potential ihrer durchaus miss­bräuch­li­chen Gren­zü­ber­schrei­tungen durch­zu­ar­beiten – dieses gefähr­liche und ambi­va­lente Gedan­ken­spiel eröffnet der Film.

In seiner Hemmungs­lo­sig­keit erkundet Grand Jeté ein Aussöhnen der Prot­ago­nistin mit den eigenen Verfeh­lungen und Anstößig­keiten. Es ist der Versuch, sich eine Dämo­ni­sie­rung von außen radikal anzu­eignen, den Schmerz und die Angst vor der Bedeu­tungs­lo­sig­keit aufzu­lösen. Irgend­wann liegt Nadja nach einer Liebes­nacht allein in der Badewanne. Ihre Beine streckt sie von sich, verrenkt sie, spitzt die Zehen, dehnt die Glieder, simuliert tänze­ri­sche Schritte in der Luft. Das Körper­ge­dächtnis hat nicht vergessen. Zwischen­durch lacht sie kurz. Der zertanzte Körper entdeckt noch einmal Lust in seiner Verseh­rung.