Glitzer & Staub

Deutschland 2018/19 · 97 min. · FSK: ab 6
Regie: Anna Koch, Julia Lemke
Drehbuch: ,
Kamera: Julia Lemke
Schnitt: Carlotta Kittel
»Harte Arbeit und Vertrauen in Gott!«
(Foto: Port-au-Prince/24 Bilder)

Zwischen Tradition und Rebellion

Glitzer & Staub vermittelt nicht nur ein authentisches Bild einer stark verbreiteten Sportart, sondern – ebenfalls authentisch – eine amerikanische Lebensphilosophie

»Es ist ein Männer­sport… Es ist zwar erlaubt, dass Frauen auch bei der Männer­dis­zi­plin antreten dürfen, aber es ist doch sehr viel schwie­riger für sie«, sagt Miss Rodeo am Rande eines Wett­be­werbs.

Der Doku­men­tar­film von Anna Koch und Julia Lemke führt in eine hier­zu­lande sehr fremde Welt, und so sieht man den jungen Prot­ago­nis­tinnen, die zu Pferd das Lasso schwingen und Kälbchen einfangen oder auf wild buckelnden Bullen versuchen, möglichst eine Weile sitzen zu bleiben, staunend wie fassungslos zu. Die Filme­ma­che­rinnen stellen vier Mädchen zwischen neun und fünfzehn Jahren vor, die mit ihren Familien im konser­va­tiven mittleren Westen der USA leben, und begleiten sie bei ihrem harten Training und bei den regel­mäßigen Wett­kämpfen am Woche­n­ende. Es ist ein Weg, der den vier jungen Cowgirls mehr Staub als Glitzer verheißt, wie die eindrucks­vollen Bilder zeigen. Vier unter­schied­liche Coming-of-Age-Geschichten zwischen Tradition und Rebellion aus einer zusehends selbst­be­wussten, ziel­stre­bigen Genera­tion junger Mädchen und Frauen.

»Nord­ame­rika ist ein paradoxer Ort, zugleich liberal und zutiefst reak­ti­onär. Zwischen Silicon Valley und New York ist viel Raum für Gegenden, in denen die Zeit scheinbar stehen geblieben ist. Die Biogra­fien der dort lebenden Prot­ago­nis­tinnen scheinen klar vorge­zeichnet als Ehefrauen und Mütter. In dieser Welt geben die Männer den Ton an. Wie ist es, in dieser Welt aufzu­wachsen? Heute, als Mädchen hin- und herge­rissen zwischen gestern und morgen? Unsere Cowgirls nehmen sich das Recht, selbst die Rodeo-Arena zu betreten, gesehen zu werden, den eigenen Namen durch die Laut­spre­cher zu hören. Sie riskieren es, dort das Gesicht zu verlieren und ausge­lacht zu werden. Der Gang in die Arena ist ihre Form der Rebellion. … Sie sagen: Ich bin jemand, und ich geh hier nicht weg. Sie geben Hoffnung in einer Zeit, die Hoffnung braucht.« (Anna Koch & Julia Lemke in ihrem Regie­kom­mentar)

Die zehn­jäh­rige Maysun King ist mit den Tieren auf der Ranch ihrer Eltern aufge­wachsen, saß bereits auf dem Rücken eines Pferdes, bevor sie laufen konnte, fängt mit zehn die Kälber mit dem Lasso und treibt mit ihrem Vater Bullen über die Koppeln. Andere Menschen sieht sie kaum, was ihr auch recht ist – schon in die Schule geht sie nur mit Wider­willen, wie das Gespräch mit ihrer Mutter Sarah King, einst erfolg­reiche Lasso-Reiterin, die von einem Rodeo zum nächsten tourte, über Sinn und Zweck von Schule offenbart. Maysun möchte am liebsten zu Hause unter­richtet werden, weil sie von den anderen in der Klasse gehänselt wird und sich nicht anerkannt fühlt. Doch die Mutter plädiert für den Schul­un­ter­richt. »Man muss mit denen, die gemein sind, klar­kommen. Es geht um deine Bildung, die Erfahrung, die du als Cowboy machst, helfen dir in solchen Situa­tionen, damit umzugehen und stark zu sein.«
Trey King, Maysuns Vater, erzählt von seiner Enttäu­schung, als sein Kind kein Junge war, ein Mädchen passte nicht in seine Vorstel­lung von einem Leben als Rancher und Cowboy. Dass seine Tochter inzwi­schen als Cowgirl so hart wie ein Junge trainiert und ihm bei der Arbeit zur Hand geht, sieht er mit Genug­tuung.

Ein tägliches, hartes Training auf wild buckelnden Bullen, sogar im Morgen­grauen noch vor der Schule, ist für die neun­jäh­rige Ariyana Escobedos selbst­ver­ständ­lich – mit dem Ziel, die erste profes­sio­nelle Bullen­rei­terin der USA zu werden und an den National Finals teil­zu­nehmen. Sie liebt das Rodeo, davon kann sie auch ein gebro­chener Fuß nicht abhalten. Und das kleine Cowgirl hat nicht nur einen Gürtel umge­schnallt, auf dem steht „Never scared“ („Niemals ängstlich“), sondern Ariyana hat auch ihr Berufs­ziel ganz klar und fest vor Augen: »… selbst wenn alles möglich wäre, würde ich trotzdem Bullen­rei­terin werden. Ich liebe es einfach von ganzem Herzen, das will ich für den Rest meines Lebens machen.«

Tatyanna Begay, 17 Jahre, gehört zum Stamm der Navajos und lebt mit ihren Eltern und sieben Geschwis­tern in einem kleinen Ort in Navajo Nation, dem größten Reservat der USA. Da es in ihrer Familie bisher keine Bullen­reiter gab, sind alle stolz auf sie. Sie selbst meint „Ohne das Bullen­reiten wäre ich ein Niemand.“ Ihre jüngere Cousine, Altraykia, die auf einer einsamen Farm in der Nähe von Tatyannas Familie wohnt, hat selbst ein Pferd, das sie sehr liebt – wie man in einer anrüh­renden Szene sieht, bewundert aber Tatyannas Mut, die Bullen zu reiten und möchte ihr nach­ei­fern.

Es gibt aber auch nach­denk­liche Szenen bei Turnieren, die zeigen, wie gefähr­lich das Bullen­reiten sein kann, wo es zu Verlet­zungen kommt, zu Abbrüchen und eine junge Teil­neh­merin erkennt: »Ich weiß, man kann immer wieder anfangen, aber das ist es nicht wert.«

Die atmo­s­phä­ri­schen Bilder der unend­li­chen Weite karger, steiniger Land­schaft, über die der Wind trockene Gras­bü­schel treibt, und von blauen Gebirgen in der Ferne, die den Horizont begrenzen (Kamera: Julia Lemke), bringen Ruhe ins Geschehen und gliedern zugleich geschickt die action­rei­chen Geschichten.

Die Filme­ma­che­rinnen Julia Lemke und Anna Koch studierten an der Deutschen Film- und Fern­seh­aka­demie Berlin. Schon ihr gemein­samer Abschluss­film, Schul­ter­sieg, hatte eine Sportart zum Thema; hier begleiten sie vier junge Ringe­rinnen mehrere Jahre. Der Film wurde bei den Hofer Filmtagen 2016 mit dem Preis für den besten Doku­men­tar­film ausge­zeichnet und nahm danach noch erfolg­reich auf weiteren inter­na­tio­nalen Film­fes­ti­vals teil. Seither arbeiten Anna Koch und Julia Lemke gemeinsam unter dem Namen „Badabum Duo“.

Glitzer & Staub vermit­telt nicht nur ein authen­ti­sches Bild einer ursprüng­lich aus Brasilien stam­menden und auf dem nord­ame­ri­ka­ni­schen Kontinent stark verbrei­teten Sportart, die sich inzwi­schen auch ehrgei­zige Cowgirls aneignen, sondern – ebenfalls authen­tisch – eine ameri­ka­ni­sche Lebens­phi­lo­so­phie, wie sie Trey King, der Vater der zehn­jäh­rigen Maysun, verin­ner­licht hat: »Wenn du tapfer, mutig, stark bist und Gottes Segen hast, kannst du’s nach ganz oben schaffen. Oben ange­kommen, musst du immer auf der Hut sein – wenn du nicht aufpasst, kommt gleich der Nächste… In Amerika ist das nötig – harte Arbeit und Vertrauen in Gott!«