Deutschland 2016 · 88 min. · FSK: ab 0 Regie: Simon Stadler, Catenia Lermer, Sven Mehling Drehbuch: Simon Stadler Kamera: Simon Stadler Schnitt: André Broecher, Markus Frohnhoefer |
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Pragmatischer, vorurteilsfreier Blick |
Dokumentarfilme haben es schwer. Fernsehsender und Film-Verleiher nehmen sie ungern ins Programm. Wenn unabhängige, engagierte Kinobetreiber sie auf eigene Rechnung zeigen, gehen sie ein hohes, wirtschaftliches Risiko ein.
Es heißt, zu wenige Zuschauer wollen Dokumentarfilme sehen. Angeblich sind sie oberlehrerhaft, langweilig oder, noch schlimmer, sie drücken auf die Stimmung. Da sie die Realität zeigen, den Blick auf Missstände und Katastrophen richten oder
unangenehme Probleme ans Tageslicht zerren, die lieber unter den Teppich gekehrt werden.
Ghostland – Reise ins Land der Geister gelingt das Gegenteil, nämlich das kleine Kunststück, die ungeschminkte Realität zu zeigen und dabei gleichzeitig unterhaltsam zu sein, feinsinnig und vor allem humorvoll.
Es ist schon erstaunlich, die Handvoll Angehörige des Volkes der Ju/’Hoansi näher kennen zu lernen. Ihre fast vollständige, selbstverständliche Nacktheit zu akzeptieren, ihre ungewöhnlichen Gesichter zu sehen. Erst recht, ihre Geschichte zu hören:
Seit Menschengedenken durchstreiften sie als Nomaden die Savanne und lebten von der Jagd. Bis Namibias Regierung ihnen das Jagen verboten hat.
Wovon sollen Menschen leben, wenn es weit und breit keine Industrie gibt, in
der sie arbeiten und keine Kunden, denen sie etwas verkaufen könnten? Für die Landwirtschaft ist das Land viel zu trocken.
Der karge Alltag der Buschmänner und -Frauen wirkt mehr als ungewohnt. Er ist verstörend fremd. Der Sanftmut und die Ergebenheit, mit der sie ihr Schicksal erdulden, widerspricht den Lebensmaximen, die unser Leben bestimmen: Sei deines Glückes Schmied! Nimm dein Leben in die Hand! Vom Tellerwäscher zum Millionär ...
Doch kaum erscheint auf dem Gesicht eines Ju/’Hoansi Freude, Neugier, Staunen, Trauer oder Angst, zeigt sich deutlich, ihre Gefühle sind exakt die Gleichen wie
unsere Gefühle.
Im ersten Teil der Doku lernen wir ihr Leben kennen, fast so wie die Touristen, die sie in ihrem Dorf besuchen und fotografieren. Vom Tourismus leben die Ju/’Hoansi, da sie keine andere Einkommensquelle mehr haben.
Diese Touristen-Perspektive bekommt im zweiten Teil eine unerwartete Wendung.
Eine NGO finanziert einer Handvoll Buschmänner und -Frauen einen Ausflug in die Großstadt. Das erste Mal im Leben Busfahren, im Supermarkt Einkaufen, ratlos vor einem „All you-can-eat“-Buffet Stehen. Und natürlich Hosen und T-Shirts tragen.
Was für uns zum grauen Alltag gehört, ist für jeden Ju/’Hoansi ein waghalsiges Abenteuer. Eben waren sie noch eine pittoreske Touristen-Attraktion. Plötzlich sind sie selbst Touristen, die aus dem Staunen nicht rauskommen. Diesen Rollenwechsel meistern sie nachdenklich und amüsiert.
Was sie zum Leben in der Zivilisation sagen, ist klarsichtig und treffend. Obwohl sie bisher nur die Wildnis kannten. Weder Schulen, Häuser, Bücher, Radios, Autos, noch Fernsehen und natürlich kein Internet! Alles Errungenschaften, deren Fehlen bei fast jedem „zivilisierten“ Menschen Entzugserscheinungen auslöst, wenn nicht sogar Existenzängste.
Dieses Abenteuer wird wunderbar getoppt, von einer noch viel weiteren Reise. Ein paar Buschmänner und -Frauen bekommen einen Flug spendiert. Von Windhoek nach Frankfurt am Main. Also von einem entbehrungsreichen „Leben in der Natur“ in das Land, in dem eine der größten Sehnsüchte heißt: „Zurück zur Natur“. Von einem armen Landstrich in eins der reichsten Länder der Welt.
In der Savanne ist den Ju/’Hoansi die Jagd mit Pfeil und Bogen strengstens verboten. In Deutschland sind sie gerne gesehene Lehrer für das Überleben in der Natur. Vorausgesetzt, sie erlegen keine Kühe auf der Weide...
Normalerweise wird aus solchen unauflösbaren Widersprüchen Kritik an der Zivilisation abgeleitet. An der Globalisierung, am Materialismus oder dem Turbo-Kapitalismus.
Bei Ghostland kommt so etwas explizit nicht vor. Die Doku hat es auch gar nicht nötig.
Durch den pragmatischen, vorurteilsfreien Blick der Ju/’Hoansi lernt auch der Zuschauer eine optimistische Sicht auf das Leben. Egal ob im Busch, in einer afrikanischen Großstadt
oder in Deutschland.
Die Buschmänner und –Frauen staunen und wundern sich, anstatt zu bewerten oder zu kritisieren. Unterschiede werden aufmerksam studiert. Missstände achselzuckend akzeptiert. Was ihnen gefällt, wünschen sie sich für ihr Dorf: medizinische Versorgung, natürlich. Ein Buschmann hätte gerne einen Internetanschluss. Eine Buschfrau ein Doppelbett, obwohl es kaum in ihr kleines Zelt passt. Beide schaffen es, sich ihre Wünsche zu erfüllen, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg.