Die Geschichte von Marie und Julien

Histoire de Marie et Julien

Frankreich/I 2003 · 150 min. · FSK: ab 12
Regie: Jacques Rivette
Drehbuch: ,
Kamera: William Lubtchansky
Darsteller: Emmanuelle Béart, Jerzy Radziwilowicz, Anne Brochet, Bettina Kee u.a.
Im Räderwerk der Zeit: Marie und Julien

Wiederkehr eines untoten Films

Jacques Rivette ist ein Sonder­ling im Kino der Nouvelle Vague. Ähnlich wie Godard, Rohmer, Truffaut begann er sein filmi­sches Schaffen mit der écriture, mit dem Schreiben über Filme in den Cahiers du Cinéma. Seine ersten Kritiken entstanden zu Renoir und Hitchcock, und bei Letzterem scheint er seine Vorliebe zum Rätsel­haften, zum atmo­s­phä­risch aufge­la­denen Mysterium entwi­ckelt zu haben. Dem Zufäl­ligen und Geheim­nis­vollen lässt er gerne den Plot folgen; so wie in Céline et Julie vont en bateau (1974) die Geschichte ihren Anfang nimmt, als Julie in einem Park von der rennenden Céline (Juliet Berto) magisch in den Bann gezogen wird und ihr folgt, ähnlich der Wunder­land-Alice dem weißen Kaninchen, dabei in immer tiefere Rätsel über verschlos­sene Türen und verbotene Räume gelangt.

Die Vorliebe für das zufällige Spiel, das Geschichten in Bewegung setzt, spiegelt sich auch in Rivettes Regie­ar­beit wieder: In seinem drei­zehn­s­tün­digen Out 1 (Noli Me Tangere) von 1971 ist die Vorgabe des Plots der Stadtplan von Paris, der wie die Windungen eines Schne­cken­hauses die Struktur einer Spirale bildet; entlang dieses Spiel-Plans sucht die »Gruppe der Dreizehn« einen Dieb rätsel­hafter Briefe, einen Outlaw und Underdog. Vor jedem Drehtag entwi­ckelten die Schau­spieler ihre Figuren, impro­vi­sierten die Dialoge.

In den frühen Filmen Rivettes gibt es immer auch ein Außerhalb der Geschichte, etwas, was nicht mehr in den Plot einge­bunden werden kann, was auch einfach nur für sich steht, allein sich selbst abbildet, fast doku­men­tiert. Nahezu zwei Stunden umfassen die Thea­ter­proben zu Racines »Andro­maque« in L’amour fou von 1969; sie zeigen die Arbeit eines von sprach­li­chen und körper­li­chen Zwängen befreiten expe­ri­men­tellen Theaters. Andere Sequenzen lassen Bulle Ogier aus dem Fenster blicken, in ein Tonband­gerät sprechen, einen Hund stehlen, der dem Hund auf einem Plat­ten­cover ähnlich sieht. In Out 1 lässt Rivette die Figuren unter­ein­ander begegnen und sie über Dinge sprechen, die in einem gewissen Zusam­men­hang mit den beiden Haupt­fi­guren stehen, und erreicht damit eine Mini­m­al­kohä­renz des Plots. Seine frühen Filme hatten immer das, was gegen ihre Konsu­mier­bar­keit geht: Sie insze­nierten ein von Zwängen befreites Irresein, das immer auch von den Konven­tionen, die Drehbuch und Drama­turgie meinen, befreit war, und sie hatten vor allem eins: Zeit.

Es gab auch Kurz- und Lang­fas­sungen seiner Filme. Out 1 (Spectre) ist die vier-Stunden-Kino­fas­sung des als Impro­vi­sa­ti­ons­serie gedachten Out 1 (Noli Me Tangere); und nachdem L’amour fou unau­to­ri­siert auf ein Zwei-Stunden-Eifer­suchts­drama gekürzt wurde, gab Rivette selbst kurze und lange Kino­fas­sungen vor. Seine letzte Arbeit mit Emma­nu­elle Béart, La belle noiseuse (1991), war in vier und in zwei Stunden zu sehen, dann als Diver­ti­mento, als »musi­ka­li­sches Zwischen­spiel«. Der Film wurde zum ersten großen Kino­er­folg Rivettes.

Später zeigte sich Rivette ungleich strin­genter, sein vorletzter Film, Secret défense, wurde zur großen Hommage an Hitch­cocks Marnie, und Va savoir von 2001 erzählte entlang der Rätsel um die eigene Herkunft auch von der Möglich­keit, die Existenz zu entschlüs­seln.

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Die Filme des heute 76-Jährigen wurden mit den Jahren weniger geheim­nis­voll, dabei besser rezi­pierbar. Histoire de Marie et Julien ist ein Projekt, das in die entfes­selten 70er-Jahre zurück­führt. Der Film sollte auf Duelle und Noroît von 1975/76 folgen. Als aber Rivette die ersten Takes abgedreht hatte, verschwand er aus unge­klärten Gründen für fast zwei Jahre spurlos von der Bild­fläche. Das Projekt wanderte in die Schublade des Kame­ra­manns William Lubt­chansky und wurde vor drei Jahren zufällig wieder­ent­deckt.

Der Plot dieses Wieder­gänger-Films erinnert an die rätsel­hafte Atmo­s­phäre von Céline et Julie vont en bateau. Der Uhren­re­stau­rator Julien (Jerzy Radzi­wi­lo­wicz), der auf einer Parkbank einge­schlafen war, erblickt beim Aufwachen Marie (Emma­nu­elle Béart), mit der er ein Jahr zuvor eine kurze Liebes­af­färe hatte. Sie entdecken, dass sie jetzt frei fürein­ander sind, und Marie zieht in das Haus von Julien. Sie richtet sich, einem geheimen Plan folgend, im Dach­ge­schoss ein Zimmer ein, das Julien nicht betreten darf. Auch Julien hat seine Geheim­nisse: Er erpresst eine gewisse Madame X, die mit gefälschten chine­si­schen Stoffen handelt. Zu Hause bringt Julien Turm­uh­ren­spiele wieder in Takt. Immer wieder klingelt das Telefon: Ein Auftrag­geber bittet ihn, das Uhrwerk einer Kirche zu restau­rieren. Julien lehnt ab.

Marie entgleitet ihm nach ihrem Einzug in das Haus immer mehr; sie entschwebt in den zu langen Kleidern ihrer Vorgän­gerin, versinkt in farblosen Mohair­pullis, verschwindet tagsüber, wenn sie sich mit Madame X trifft, zu der sie Kontakt aufge­nommen hat. Nur wenn die Körper zuein­an­der­finden, im Liebesakt, den Rivette zum ersten Mal, gleichsam als Stei­ge­rung der Nacktheit Béarts als »schöner Queru­lantin« auf die Leinwand bringt, scheint sich die Substanz­lo­sig­keit von Marie zu geben, in einem Akt elemen­tarer Rück­ver­si­che­rung.

Marie ist rätsel­haft; das verbindet sie mit dem Rivet­te­schen Figu­ren­uni­versum. Mehr als die Rätsel­haf­tig­keit allein jedoch inter­es­siert Rivette hier, das Rätsel zu lösen, um auf eine weiter gefasste, exis­ten­zi­elle Rätsel­haf­tig­keit hinaus­zu­weisen, die von Sterben, Leben und Liebe. Marie ist eine Wieder­gän­gerin, aus dem Reich der Toten. Das Zimmer, das sie sich einrichtet, bildet genau jenes Zimmer ab, in dem sie sich ein Jahr zuvor erhängte. Auch die Verbin­dung zu Madame X verläuft über die Grenz­linie zum Toten­reich. Mit deren toten Schwester Adrienne trifft sich Marie in einem licht­durch­flu­teten Elysium und erkennt, dass sie unter den Lebenden bleiben möchte.

Rivette setzte sich auch in Céline et Julie vont en bateau über die Grenzen von Tod und Leben hinweg, insze­nierte auch dort rätsel­hafte Zusam­men­künfte von Untoten. Hier aber gibt er dem Sterben und dem Leben einen Grund, den der Liebe. In einer an die christ­liche Wieder­auf­er­ste­hung gemah­nenden Szene kehrt Marie schließ­lich in das Reich der Sterb­li­chen zurück.

Stark ist Rivette in den Momenten, in dem er die Rätsel aufwirft. Als Marie einmal im Hause Juliens in ihrem Zimmer sitzt, fällt die Sonne durch das Dach­fenster; scharfe Licht-Schatten-Konturen durch­schneiden den Raum. Dann bleibt die Sonne weg – eine Öllampe auf einem Hocker gibt dem Zimmer plötzlich Räum­lich­keit und Wärme. Eine unschein­bare Szene, die in ihrer Licht­in­sze­nie­rung die ganze Existenz von Marie in Frage zu stellen vermag. Marie wirkt hier zum ersten Mal wirklich körper­lich, und man ahnt, dass es einen tieferen Grund geben muss, weshalb sie zuvor jeder Räum­lich­keit entschwand.

Wenn aber Rivette die Rätsel löst, die Figuren sich zuein­ander fügen, der Plot aufgeht, erscheint die Tatsache, es mit Wieder­gän­gern zu tun zu haben, fast gewöhn­lich. Mit krimi­no­lo­gi­schem Eifer lässt er Julien Marie hinter­her­spio­nieren, bis dieser ihr Geheimnis erforscht hat, lässt er Marie zu Madame X Kontakt aufnehmen, die den Grund für die Erpres­sung preisgibt, und Adrienne Marie aufspüren, um ein tot-leben­diges Paral­lel­uni­versum aufzu­spannen. Bei all dem Entdecken und Erkennen bleibt kein Platz mehr für das, um das es beim Leben und Sterben immer geht, und das Rivette immer auch als genuin filmi­sches Element mitin­sze­nierte: die Zeit. Die Szenen, in denen Julien die Uhren­werke repariert, erhalten keine Zeit­lich­keit außerhalb des hand­lungs­lo­gi­schen Chro­no­me­ters, die sie dem Gang der Geschichte als souver­änes Element entheben könnten. Das Ticken der Uhrwerke, das Inein­an­der­greifen der Zahnräder wirft so als bloße Metapher über das Leben und Sterben die Frage nach Zeit­lich­keit und Endlich­keit auf, ohne ihr selbst filmi­schen Raum zu geben. So nimmt die Erlö­sungs­ge­schichte von Marie trotz der Filmlänge von fast drei Stunden ziemlich schnell ihren Gang. Als Marie am Ende ins Reich der Lebenden zurück­kehrt, sagt sie zu Julien: »Lass mir ein wenig Zeit.« Als wäre auch ihr das alles viel zu schnell gegangen.