Italien/Frankreich 1996 · 116 min. Regie: Bernardo Bertolucci Drehbuch: Susan Minot, Bernardo Bertolucci Kamera: Darius Khondji Darsteller: Liv Tyler, Jeremy Irons, Sinead Cusack, Carlo Cecchi u.a. |
Auf die ranschmeißerische Eröffnungsfloskel eines Interviews in »Jetzt« (»Bernardo Bertolucci nennt dich seine Muse ...«) antwortete die Hauptdarstellerin Liv Tyler: »Jedesmal wenn ich das höre, werde ich rot bis über beide Ohren.« Hat er sie nun also geküßt, oder sie ihn (wie es der Musen Pflicht und Schuldigkeit), oder unterblieb dies alles? Das würde hinreichend die Uninspiriertheit des Filmes erklären und zugleich zu dem deprimierenden Fazit zwingen, daß Gefühl und Verführung noch nicht einmal dazu taugte, Herz und Sinne des altgewordenen Wunderkindes Bernardo Bertolucci zu trösten.
Um das Küssen geht es in diesem Film, um die Suche nach dem Vater und einem Mann, der geeignet erscheint, mit der Filmgöre Liv alias Lucy zum angeblich ersten Male die Vorzüge des vielgepriesenen Sexuallebens zu teilen. Dazu kommt es dann auch. Das Drehbuch will, daß daraus eine glückhafte Begegnung mit dem sogenannten »Richtigen« wird. Denjenigen Betrachtern des Films aber, die auf diesem gefährlichen Terrain bewanderter sind als die Kunstfigur Lucy Harmon alias Liz Tyler, entringt sich angesichts der Aufführung ihres letztendlichen Geliebten der Ausruf Pier Paolo Pasolinis: »Die Italiener sind auch nicht mehr die Alten!«
Der Film wurde in Brolio gedreht, und gerade hier hätte Bertolucci einigen dieser Gegend eigentümlichen Phänomenen begegnen können, den Wirkungen eines jahrzehntelangen Weintourismus, der Landflucht der bäuerlichen Bevölkerung, der Ansiedlung reicher Zuwanderer als Ferienhausbesitzer und Weinbauern, der Ankunft afrikanischer und tamilischer Arbeitskräfte, über die man in der Gegend Lob nach Gutsherrenart hören kann: »Die singen noch so fröhlich beim Arbeiten«. Kein Filmstoff?
Stattdessen: Die Kameraarbeit konkurriert (und verliert) bei Außenaufnahmen mit den Werbespots von »Onkel Dittmeyer« und »Timotei«, in den ausgebauten Bauernhäusern hingegen wird »Racke Rauchzart« zitiert.
Gefühl und Verführung ist interessant einzig als Ergänzung des Bildes der künstlerischen Möglichkeiten Bernardo Bertoluccis: der Film ist kein singulärer Ausrutscher, sondern fügt sich trefflich in sein Werk und die Geschichte seines Lebens. Sein Vater war Regionaldichter und Filmkritiker aus der Umgebung von Parma. Ein Freund und römischer Wohnungsnachbar, Pier Paolo Pasolini, fördert das »Nachbarskind«, zunächst seine Dichtkunst (zu der sich Bernardo selbst bald nicht mehr bekennen mag), dann den Wechsel zur Filmregie.
Solcherart protegiert, zieht Bertolucci seitdem Gewinn ausschließlich aus dem Talent der anderen: Kameramännern wie Aldo Scavarda und Carlo di Palma, Ideenlieferanten wie Pasolini, Schauspielern wie Marlon Brando und Robert de Niro (letzterer versagt unter seiner Regie). Waren seine ersten Filme von der Nouvelle Vague abgepaust, so findet Regiearbeit bald nicht mehr statt: Bertolucci übergibt das Heft an den Kameramann Vittorio Storaro (»die Materie meiner Kunst ist das Licht«), der seit 1970 bis auf eine Ausnahme alle Spielfilme Bertoluccis gedreht hat. Der barocke, zu abstoßend konformistischem Kino geronnene Rotstich der letzten Produkte (oscarbelohnter Last Emperor, Il tè nel deserto und Little Buddha) wurde vielleicht zuletzt selbst dem Regisseur Bertolucci zu viel: Im neuesten Film ist Darius Khondji Chefkameramann. Der hat nun nichts besseres zu tun, als seinen steadicam operator loszuschicken, der sich durch Landschaft und Gesichter fummelt.
Streng zeitgemäß ist der Film übrigens auch in seinen ersten Sequenzen: die nämlich sind auf Hi-8 gedreht! Bernardo Bertolucci hat auch zu diesem Film nichts beigesteuert, was irgendwie als sein Eigen kenntlich wäre, außer vielleicht seiner Uneigentlichkeit.